Dialog über das europäische Gemeinwohl

Bischofskonferenzen von Deutschland, Schweiz und Frankreich debattieren in Paris

Mit einem eindringlichen Appell, das europäische Gemeinwohl nicht populistischen Tendenzen oder nationalstaatlichen Interessen zu opfern, ist heute in Paris eine Tagung der Bischofskonferenzen von Frankreich, der Schweiz und Deutschland zuende gegangen.

Unter dem Leitwort „Dialog über das europäische Gemeinwohl“ hatten seit gestern Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Kirche über die Zukunft der europäischen Idee diskutiert. Mit der Konferenz war die Überzeugung verbunden, dass die Wiederbelebung des europäischen Projekts eine Neudefinition des Gemeinwohls voraussetzt.

Der Vorsitzende der Französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Georges Pontier, betonte, dass angesichts des steigenden Einflusses nationalistischer Tendenzen in vielen Ländern die Skepsis am europäischen Projekt wachse. Deshalb müsse neu darum gerungen werden, was das europäische Gemeinwohl über den gemeinsamen Wohlstand hinaus ausmache. „Es wird notwendig sein, die traditionellen Werte Europas wie Frieden, Menschenwürde, Subsidiarität und Rechtsstaatlichkeit zu ergänzen um einen Wert der Einheit in Vielfalt. Eine Multipolarität ohne Dominanz macht das europäische Projekt wesentlich mit aus“, so Erzbischof Pontier. Skeptisch gegenüber dem Begriff des europäischen Gemeinwohls äußerte sich der frühere Bundesinnenminister Deutschlands, Thomas de Maizière (CDU): „Es ist an der Zeit, dass die Staaten Europas die Unterschiedlichkeit der nationalen Einzelinteressen anerkennen müssen. Das Gemeinwohl kann verlangen, dass bestimmte Interessen einzelner Staaten zurückstehen müssten.“ Solche Entscheidungen gebe es in der EU immer wieder, sagte de Maizière. Ein allgemein akzeptiertes einheitliches europäisches Gemeinwohl werde es so lange nicht geben, wie es kein „europäisches Volk“ gebe.

Während der Tagung wurde in den verschiedenen Diskussionen an der auch die ehemalige französische Verteidigungsministerin Sylvie Goulard und der frühere Präsident des italienischen Ministerrats, Enrico Letta, teilnahmen, die Entwicklung des Begriffs des europäischen Gemeinwohls seit der Schuman-Erklärung erörtert und nach aktuellen Formen der Rezeption eines europäischen Gemeinwohls gefragt. Hierbei stand eine Analyse der Ursachen für die Enttäuschung und das Desinteresse vieler Europäer an diesem Begriff im Vordergrund. Außerdem wurde immer wieder die kirchliche Sicht auf Europa hervorgehoben.

Der mittlere Teil der Tagung war der Frage gewidmet, weshalb Europa seine Bürger nicht mehr inspiriere. Bischof Felix Gmür, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, leitete diesen Themenblock mit der Feststellung ein, dass die Teilnahme der Schweiz an diesem Anlass darauf hinweise, dass Europa mehr als die EU sei. Aus der Schweizer Geschichte könne die EU lernen, wie wichtig es sei, nicht ausschliesslich nach dem Mehrheitenprinzip zu handeln sondern Minderheiten bewusst einzubeziehen. Denn wer konkret betroffen oder involviert sei, werde sich auch vermehrt interessieren, so Bischof Gmür.

Von einer „moralisch erhöhten Dichothomie“ sprach Prof. Dr. Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz, und stellte fest, dass die politischen und kulturellen Differenzen innerhalb der EU grösser seien als ursprünglich gedacht. Dies habe schliesslich dazu geführt, dass der Eindruck einer Alternativlosigkeit entstanden und eine „ever closer union“ suggeriert worden sei. Dies habe dann schliesslich als Gegenreaktion zu gewissen Ressentiments und aufkeimendem Populismus geführt. Zum Abschluss plädierte er bei zentralen Themen wie Digitalisierung, Infrastruktur, Asyl, Migration und Grenzen für mehr flexible Formen, um zu verhindern, dass Demokratie nicht noch mehr zum Rückzug gedrängt werde. Prof. Dr. Georg Kohler, emeritierter Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich, sah im aktuellen Verlauf der Brexit-Diskussionen, dass die EU wohl mehr unbekannte Leistungen für den Frieden und den Zusammenhalt in Grossbritannien erbracht habe als bisher wahrgenommen. Für den Unmut in der Bevölkerung nannte er folgende Möglichkeiten: die EU wird als Sündenbock wahrgenommen, die EU hat zwar als Wirtschaftsraum Wachstum aber auch neue Ungleichheiten generiert und die EU muss ständig ein Ungleichgewicht ausbalancieren, das die Staaten dadurch entstehen lassen, dass sie ihre eigenen Probleme nicht zu lösen vermögen. Für Gaël Giraud SJ, Chefökonom an der Agence fraçaise du développement, kann das Interesse der Bürgerinnen und Bürger wieder belebt werden, wenn die EU ihre historische Rolle in der ökologischen Transition wahrnimmt oder gezielt einen europäischen Föderalismus vorantreibt.

Im dritten Themenblock wurden mögliche Ansätze diskutiert, wie der europäische „Traum“ künftig aussehen könnte. Thomas Gomart, Direktor des Institut Français des Relations internationales, skizzierte aus geopolitischer Sicht die aktuelle Situation. Dadurch dass die EU seit 1989 konsequent abgerüstet hat während USA, Russland und China seither konsequent aufgerüstet haben, sei heute eine völlig neue Ausgangssituation entstanden. Die Erarbeitung einer europäischen strategischen Autonomie habe für ihn deshalb oberste Priorität. Für Gomart bestehe der europäische Traum eher darin, den Weckruf der Realität zu hören.

Prof. Dr. Elena Lasida, Professorin für Wirtschaftswissenschaften und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats am Lehrstuhl für Gemeinwohl am Institut catholique de Paris, plädierte in diesem Zusammenhang für einen wirtschaftlichen und ökologischen Paradigmawechsel. Ausgehend von „Laudato Si“ führte sie drei Spuren aus, denen gefolgt werden könne: Beziehungen und gegenseitige Abhängigkeit („alles ist verbunden“), Gegenseitigkeit und Kostenfreiheit („alles ist geschenkt“) und Erzeugung und Schaffung anstelle von Produktion („alles ist zerbrechlich“).

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, rief dazu auf, Europa mit Leidenschaft und Augenmaß täglich neu zu erarbeiten. Die Formulierung von Jean Monnet Europa solle ein Beitrag für eine bessere Welt sein, sei eine einfache aber tiefgreifende Forderung, die sich heute aktueller denn je darstelle. „Daran müssen wir uns messen lassen, auch als Kirche“, so Kardinal Marx. Es gehe in Europa um ein Gemeinwohl für das alle sich einsetzen müssten. Das sei auch ein Auftrag der Christen, dem sich niemand entziehen könne. „Hier ist die ganze Menschheitsfamilie gefordert. Als Christen haben wir einen Auftrag in die Welt hinein. Wir dürfen die Welt nicht sich selbst überlassen, sondern sind aufgerufen, sie aktiv mitzugestalten“, sagte Kardinal Marx. Christsein bedeute auch Europäer zu sein: „Europäisches Engagement ist universelles Engagement und muss für einen Christen selbstverständlich sein.“ Dieses Engagement, so Kardinal Marx, müsse alle Ebenen umfassen und den Horizont aller Menschen berücksichtigen, vor allem der kommenden Generationen. Dazu gehörten die Frage nach dem Frieden, der verantworteten Freiheit, der Verantwortung für das gemeinsame Haus der Schöpfung und die Bewältigung der digitalen Revolution. Papst Franziskus nenne das eine „neue Fortschrittsidee“. „Ich hoffe sehr, dass die Christen nicht ein Teil des Problems in der europäischen Debatte sind, sondern ein Teil der Lösung. Das wollten wir mit dieser Konferenz in Paris unterstreichen“, sagte Kardinal Marx.

 Hintergrund: Zur Konferenz „Dialog über das europäische Gemeinwohl“ hatten der  Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx (München und Freising), der Vorsitzende der Schweizer Bischofskonferenz, Bischof Felix Gmür (Basel), und der Vorsitzende der Französischen Bischofskonferenz, Erzbischof Georges Pontier (Marseille) eingeladen. Seit 2015 organisieren die Vorsitzenden dieser Bischofskonferenzen alle zwei Jahre ein Treffen zu einem aktuellen Thema, das für die drei Länder von Bedeutung ist. Das erste Treffen fand 2015 in Rom mit Blick auf die Familiensynode statt, das zweite 2017 in Berlin zum Thema Migration.

Freiburg, 26. März 2019

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