Coronabedingtes «Nahweh»: Migrationspastoral in Zeiten des Coronavirus

Anlässlich des Tags der Migrantinnen und Migranten am 27. September 2020 hat migratio, Dienststelle der Schweizer Bischofskonferenz für Migrantinnen, Migranten und Menschen unterwegs, eine kleine Umfrage zur «Migrationspastoral in Zeiten von Covid-19» bei den anderssprachigen Gemeinschaften, die sie auf nationaler Ebene begleitet, durchgeführt. Der folgende Text fasst die wichtigsten Umfrageergebnisse zusammen.

Von: Karl-Anton Wohlwend, Nationaldirektor a.i. migratio, und Mirjam Kromer, wissenschaftliche Mitarbeiterin migratio

 

Corona hat die katholische Kirche in der Schweiz vor viele neue Herausforderungen gestellt. Darauf haben Seelsorgende und Gläubige in den vergangenen sechs Monaten zahlreiche Antworten – und neue Fragen – gefunden. Kreativität, Einfühlungsvermögen und Experimentierfreude waren gefordert. Neues wurde ausprobiert. Vieles gelang, manches nicht. [1] Die Situation in den anderssprachigen Gemeinschaften (Missionen / Seelsorgestellen) war in vielerlei Hinsicht ähnlich wie in den «Schweizer» Ortspfarreien. Seelsorge arbeitet adressat*innen- und bedürfnisorientiert. Bei den anderssprachigen Gemeinschaften prägt der Migrationshintergrund die (spirituellen) Bedürfnisse der Mehrheit ihrer Mitglieder. Einsamkeit, beispielsweise, ist nicht migrationsspezifisch. Sie kann aber durch die Migrationsgeschichte eines Menschen verschärft werden, wenn die Familie in weiter Ferne lebt oder wenn Sprachbarrieren eine isolierende Wirkung entfalten. Diesem Umstand haben Seelsorgende in anderssprachigen Gemeinschaften entsprechend Rechnung zu tragen.

Digital mobil aufgrund der eigenen Migrationsgeschichte

Schon vor der Coronakrise wurden Skype, Whatsapp und soziale Medien von vielen Menschen in den anderssprachigen Gemeinschaften genutzt, um mit Angehörigen und Freund*innen in der Ferne in Verbindung zu bleiben. Sie sind in dieser Art des Austauschs geübt und oft bis ins hohe Alter digital kompetent. Die spirituelle Dimension ist aber auch hier neu. Aus einer Mission hiess es: «Die physische Distanz brachte uns spirituell einander noch näher, verbunden durch das tägliche Rosenkranzgebet, Mittwochsandachten und gemeinsame Gottesdienste» – alles online, alles live. Und deswegen auch: alles gemeinsam.

(Als) Gemeinschaft feiern

Bei den anderssprachigen Missionen und Seelsorgestellen fällt auf, wie stark der Aspekt der Gemeinschaft essenzieller Bestandteil ihrer Glaubenspraxis ist, weit über den Gottesdienst und das gemeinsame Gebet hinaus. Die Gemeinschaften feiern nicht nur zusammen, sie feiern auch die Gemeinschaft selbst. Dies zeigt sich im – eigentlich üblichen – vielfältigen Rahmenprogramm zu den Gottesdiensten, das oft einen ganzen Tag füllt. Der Wegfall dieser Begegnungs- und Gemeinschaftsorte ist daher für viele Mitglieder der anderssprachigen Gemeinschaften besonders schmerzlich: «Wir vermissen es sehr». Diesem «Nahweh» wurde verschiedentlich begegnet, um die Menschen nicht allein zu lassen und um das Gemeinschaftsgefühl lebendig zu halten, zum Beispiel durch Online-Gemeindetreffen oder Online-Kaffeestuben. Manchenorts ist die Gemeinschaft so sogar gewachsen: Die sog. «Minoritäten-Missionen» werden von je einem Priester betreut, der an unterschiedlichen Orten in der Schweiz regelmässig mit ihnen Gottesdienste feiert. Über die gestreamten und interaktiv gestalteten Gottesdienste, Katechesen oder Einkehrtage vor Ostern haben sich die Gläubigen, die sonst an verschiedenen Orten feiern, kennengelernt. Andere, die den Kontakt zu einer Mission verloren hatten, haben ihn über das Online-Angebot wiedergefunden.

Nicht erkrankt und dennoch betroffen

Manche Gläubige der anderssprachigen Gemeinschaften haben die Auswirkungen des Coronavirus auf besonders einschneidende Weise erfahren müssen. Da sind beispielsweise die Sans-Papiers, vor allem in Genf: Neben die Sorge vor Ansteckung traten häufig der Verlust der Arbeit und die Unmöglichkeit, aufs Amt zu gehen. Da sind zum anderen Menschen mit Wurzeln in Italien, Spanien oder Lateinamerika: Fast jeder kennt jemanden, der erkrankt ist. Viele haben einen Angehörigen oder einen Menschen aus dem Freundeskreis verloren. Das Virus war auf einmal spürbar nah. Daher kehren sie nur mit grosser Vorsicht in die Kirchenbänke zurück. Die Seelsorgenden dieser Gemeinschaften haben meist einen ähnlichen Migrationshintergrund wie die übrigen Mitglieder der Sprachgemeinschaft. Sie teilen daher diesen Erfahrungshorizont und können auf daraus entstehende Bedürfnisse eingehen.

Gemeinsam unterwegs in die Zukunft

Bei den anderssprachigen Gemeinschaften nimmt migratio eine grosse Dankbarkeit für das Miteinander-unterwegs-Sein wahr – gerade in dieser Zeit. Die vergangenen Monate seien, so ein Missionar, in mancherlei Hinsicht lehrreich gewesen. Vielen sei bewusster geworden, dass wir uns nicht selbst genügen, sondern den Anderen, das Gegenüber brauchen: der Mensch kann nur in Gemeinschaft mit anderen existieren. Aus dieser Perspektive öffnet Corona Chancen für neue Begegnungen mit anderssprachigen Gemeinschaften oder mit Ortspfarreien sowie für ein vermehrtes Miteinander bei gleichzeitig wertschätzendem Nebeneinander. migratio unterstützt diesen Weg des vermehrten Miteinanders in den kommenden Jahren mit einem Projekt. Daraus kann Neues entstehen.

 

Kontaktperson:

Karl-Anton Wohlwend, Nationaldirektor a.i. migratio, 079 339 81 61,  

   

Freiburg, 24.9.2020

   «migratio und Migrationspastoral in der Schweiz»
Knapp 40 % der katholischen Gläubigen in der Schweiz haben einen migrantischen Hintergrund. Sie alle sind Glieder der einen vielsprachigen und kulturell vielfältigen Kirche und prägen das kirchliche Leben auf unterschiedlichste Art mit. Um der Mehrsprachigkeit und der kulturellen Vielfalt der katholischen Gläubigen in der Schweiz Rechnung zu tragen, stehen aktuell ca. 110 anderssprachige Missionen oder Seelsorgestellen für ihre pastorale Betreuung zur Verfügung. [2] Ein Grossteil von ihnen ist auf kantonaler oder lokaler Ebene organisiert, einige auf nationaler Ebene.
Als Dienststelle der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) ist migratio für die Sicherstellung einer adäquaten Pastoral für Migrantinnen und Migranten auf nationaler Ebene zuständig. migratio trägt auch Mitverantwortung für die Seelsorge in Bundesasylzentren, die Seelsorge der Fahrenden sowie neu für die Seelsorge der Schaustellenden und Zirkusleute.
Diese Vielfalt (in) der Kirche ist Chance und Herausforderung zugleich. Gemeinsam mit der Römisch-katholischen Zentralkonferenz hat die SBK deswegen ein Gesamtkonzept zur Zukunft der Migrationspastoral erarbeitet. Es soll als Grundlage dienen, um in den nächsten Jahren gemeinsam auf ein vermehrtes Miteinander bei wertschätzendem Nebeneinander hinzuarbeiten.
  «Katholische Fahrendenseelsorge»
migratio ist neben der Seelsorge für Migrant*innen auch zuständig für Menschen unterwegs. Dazu gehören die katholischen Fahrenden. Die Jenischen sind Schweizer*innen mit (halb-)nomadischer Kultur und eine offizielle anerkannte Minderheit in der Schweiz. Die Coronakrise hat sie besonders getroffen: Viele von ihnen waren von Arbeitsausfall betroffen. Zudem hat sich die ohnehin oft schwierige Standplatzsituation wegen der notwendigen Distanzregeln zusätzlich verschärft. Eine weitere Herausforderung ist das aktive Missionieren mancher religiöser Bewegungen.

 

   

[1] Vgl. dazu z. B. die laufende ökumenische und internationale Studie zum kirchlichen Handeln in der Coronazeit, mit besonderem Fokus auf den Aspekt der «Digitalität»: Contoc (CONTOC).

[2] Vgl. Regula Ruflin, Samuel Wetz, Patrick Renz, Daniel Kosch, Migrantenpastoral in der Schweiz. Auswertung einer Erhebung der Ist-Situation und ihrer Beurteilung. Socialdesign ag im Auftrag des Kooperationsrates von SBK und RKZ, Bern 2018.