Für eine Erneuerung der Ehe-und Familienpastoral im Lichte von Amoris Laetitia : eine gute Nachricht für alle

Botschaft der Schweizer Bischofskonferenz an alle pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Priester, Diakone und Laien


1.         In Dankbarkeit

Für die gesamte Seelsorge

Mit seinem Schreiben Amoris Laetitia macht uns Papst Franziskus ein Geschenk. Als Ergebnis eines breiten synodalen Prozesses (die zwei Bischofssynoden von 2014 und 2015) fordert uns Franziskus zur Umkehr und zu einem missionarischen Bekenntnis auf, nicht nur im Bereich der Seelsorge für Ehepaare und Familien, sondern in der pastoralen Arbeit überhaupt. Er lädt uns ein, einen neuen Stil im kirchlichen Leben zu entwickeln, der sich durch eine Willkommenskultur in der Begleitung, der Unterscheidung und der Integration in allen Bereichen der Seelsorge auszeichnet.

Ein Dankeschön

Dieses päpstliche Dokument gibt uns die Gelegenheit, all jenen herzlich zu danken, die in unseren Diözesen am synodalen Prozess teilgenommen haben. Wir nehmen unser Schreiben zum Anlass, allen Ehepaaren und Familien in unserem Land zu danken, die je auf ihre Weise das Evangelium der Liebe leben. Das Evangelium Jesu Christi leuchtet in ihren konkreten und persönlichen Geschichten. Gleichzeitig bietet uns dieses Schreiben auch die Gelegenheit, allen pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Priestern, Diakonen, Laien und Ehrenamtlichen für ihren jahrelangen Einsatz im Geiste von Amoris Laetitia für die Familienpastoral zu danken.

Kontextualisierung und Inkulturation

Im vorliegenden Dokument begnügen wir uns damit, einige allgemeine Leitlinien vorzulegen und laden jedes Bistum und jede Kirchen-Region dazu ein, diese in ihren jeweiligen Kontext einzubringen und und entsprechend zu übersetzen. Wir möchten in diesem Schreiben einige Wege zur Erneuerung der Seelsorge für Ehepaare und Familien ebnen und wünschen dabei gleichzeitig hervorzuheben, dass es sich hierbei um eine Aufgabe handelt, die die Tätigkeiten der gesamten Pastoral betrifft.

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2.         Die Willkommenskultur als neuer Akzent

Ein prophetischer Aufruf

Papst Franziskus fördert ohne Umschweife „das Evangelium von Ehe und Familie“. Das bedeutet, dass er das Zeugnis, das Ehepaare und Familien auf ihren unterschiedlichen Lebenswegen als Boten der Liebe Gottes für die ganze Menschheit ablegen, unterstützt. „Als Christen dürfen wir nicht darauf verzichten, uns zugunsten der Ehe zu äussern, nur um dem heutigen Empfinden nicht zu widersprechen, um in Mode zu sein oder aus Minderwertigkeitsgefühlen angesichts des moralischen und menschlichen Niedergangs. Wir würden der Welt Werte vorenthalten, die wir beisteuern können und müssen“ (AL 35). Aber dieser Vorschlag soll nicht als alles überragende und endgültige Gesetzmässigkeit vorgebracht werden, sondern vielmehr als ein Licht und als eine Einladung an alle Menschen guten Willens: Wir sind alle dazu aufgerufen, die Freude der Liebe zu teilen. „Denn viele“, wie der Papst noch einmal schreibt, „haben nicht das Gefühl, dass die Botschaft der Kirche über Ehe und Familie immer ein deutlicher Abglanz der Predigt und des Verhaltens Jesu gewesen ist, der zwar ein anspruchsvolles Ideal vorgeschlagen, zugleich aber niemals die mitfühlende Nähe zu den Schwachen wie der Samariterin und der Ehebrecherin verloren hat“ (AL 38).

Ein Text zum Lesen und Weitergeben

Es lohnt sich wirklich die Mühe, den ganzen Text des Heiligen Vaters zu lesen und Andere zu dessen Lektüre anzuregen. Denn die Sprache, die der Papst benutzt, zeichnet sich durch ihre Nähe zum Alltag aus und bietet daher für Jede und Jeden einen leichten Zugang. Unsere pastoralen Arbeits- und Beratungsstellen könnten zum Beispiel auch „kleine Leitfäden“ für Amoris Laetitia entwerfen, in denen Schlüsselaussagen über die unterschiedlichen Schwerpunktthemen für potentielle Leserinnen und Leser festgehalten werden.

Eine Grundhaltung der Aufnahmebereitschaft

Die Betonung der Offenbarung, die in erster Linie als Berufung zu verstehen ist, gilt für die ganze Pastoral. Durch sie wird ein vertrauensvoller und realistischer Blick auf die unterschiedlichsten Situationen von Ehepaaren und Familien zum Ausdruck gebracht. Es geht nicht darum, „mit der Macht der Autorität Regeln durchsetzen zu wollen“. Vielmehr geht es darum, „die Gründe und die Motivationen aufzuzeigen, sich für die Ehe und die Familie zu entscheiden, so dass die Menschen eher bereit sind, auf die Gnade zu antworten, die Gott ihnen anbietet.“ (AL 35). Daher sollen Verurteilungen vermieden werden, welche die Komplexität der verschiedenen Situationen nicht berücksichtigen, während gleichzeitig die Lehre klar formuliert wird. „Es ist erforderlich, auf die Art und Weise zu achten, wie die Menschen leben und aufgrund ihres Zustands leiden“ (AL 79).

Diese positive Sichtweise ist die Basis der Willkommenskultur, die den drei anderen Aufgaben der Begleitung, der Unterscheidung und der Integration zugrunde liegt. Es geht um eine „Pastoral der Zeugung“ (pastorale d’engendrement), wie sie Jesus in allen Kontexten des Evangeliums vorgelebt hat: Sie besteht in der Anerkennung, dass der Geist des HERRN bereits in jedem menschlichen Wesen wirkt, in welcher Situation auch immer wir es antreffen, in der Wertschätzung der Samenkörner des WORTES (vgl. Gaudium et Spes 22; Ad Gentes 11), die sich in allen zwischenmenschlichen Beziehungen verstreut finden (AL 76-78).

Indem Papst Franziskus daran erinnert, dass „die christliche Ehe ein Abglanz der Vereinigung Christi und seiner Kirche ist und voll verwirklicht wird in der Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau, die sich in ausschliesslicher Liebe und freier Treue einander schenken, einander bis zum Tod gehören und sich für die Weitergabe des Lebens öffnen und geheiligt sind durch das Sakrament … und andere Formen der Vereinigung diesem Ideal von Grund auf widersprechen“, bekräftigt er gleichzeitig, dass manche es „zumindest teilweise und analog verwirklichen“, und „dass die Kirche es nicht unterlässt, die konstitutiven Elemente in jenen Situationen zu würdigen, die noch nicht oder nicht mehr in Übereinstimmung mit ihrer Lehre von der Ehe sind“ (AL 292).

Und so wendet sich die Kirche „in der Perspektive der Pädagogik der göttlichen Liebe denen liebevoll zu, die auf unvollkommene Weise an ihrem Leben teilhaben: Sie bittet gemeinsam mit ihnen um die Gnade der Umkehr“ und „ermutigt sie, Gutes zu tun“ und „liebevoll füreinander zu sorgen“ (AL 78).

Verlangen wecken nach dieser guten Nachricht

Die Aufgabe aller pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Priester, Diakone und Laien ist es also, im strengen Sinne dieses Postulates, die Gnade sichtbar zu machen, die all unseren Handlungen vorausgeht, und die Werte zu würdigen, die jene Menschen schon verwirklichen, denen wir begegnen. Wir werden dazu aufgefordert, nicht etwas (Schweres) aufzubürden, sondern vielmehr das Verlangen nach dem Evangelium der Familie zu wecken (AL 36) . „Das Vertrauen auf die Gnade wachzurufen“, welche die Ehe als „erstrebenswerter und attraktiver“ einstuft, entspricht einer Sehnsucht, die junge Leute heute immer noch stark motiviert, trotz aller Zerbrechlichkeit in der aktuellen „Kultur des Provisorischen“ (AL 39).

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3.         Die pastorale Absicht jeglicher Doktrin

Die Lehre ist Gabe und Barmherzigkeit zugleich

Im Anschluss an das Heilige Jahr durchziehen zwei Ausdrücke das Schreiben wie ein Leitmotiv: Die Gnade eines trinitarischen Gottes der Liebe, die sich gibt (AL 71-72), und die Barmherzigkeit, welche Nähe und Mitgefühl vonseiten jener einschliesst, die sich als Christinnen und Christen bezeichnen (AL 297).

Das „Prinzip Barmherzigkeit“ ist das „schlagende Herz“ der christlichen Lehre (AL 309), denn es ist die Mitte der Zuwendung eines Gottes, der uns und der ganzen Menschheit nahe gekommen ist. Es ist dieses Prinzip des Mitgefühls, welches die Verbindung schafft zwischen der „Logik des Evangeliums“, der Lehre und der Logik der Pastoral (AL 307-312). Wie Kardinal Schönborn geschrieben hat: Die Doktrin ohne Pastoral ist lärmende Pauke (1 Kor 13,1). Die Pastoral ohne die Lehre ist nur „Menschenweisheit“ (Mt 16,23). Die Lehre, das ist zuerst das Evangelium: So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eigenen Sohn hergab, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat. Dies ist die Verkündigung der grundlegenden Glaubenswahrheit: Gott hat (uns) Barmherzigkeit erwiesen (vgl. Der Blick des guten Hirten; Bex/Paris, Parole et Silence, 2016, S. 86).

Die göttliche Pädagogik

Statt sie in einen unversöhnlichen Gegensatz zu bringen, geht es darum, die Vorgabe eines anspruchsvollen, für die Gnade offenen Ideals, ohne unrealistische Idealisierung, mit der mitfühlenden Nähe gegenüber zerbrechlichen Menschen zu verbinden (AL 35-38). Das sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille, die zwei Aspekte desselben Geheimnisses der unverdienten Gabe in der „göttlichen Pädagogik der Gnade“ uns gegenüber (AL 297).

Eine missionarische Umkehr

Wie soll man nun aus diesem beschriebenen Dilemma herausfinden? Es braucht ein pastorales Umdenken, einen wirklichen „Aufbruch“, ein „Hinausgehen“ (vgl. Evangelii Gaudium 20-26) in Richtung von Begegnungen, in denen inmitten „zahlloser Unterschiede der konkreten Situationen (AL 300) das Gute mit Händen zu greifen ist, „das der Heilige Geist inmitten der Schwachheit und Hinfälligkeit verbreitet: Eine Mutter [die Kirche], die klar ihre objektive Lehre zum Ausdruck bringt und zugleich nicht auf das mögliche Gute verzichtet, auch wenn sie Gefahr läuft, sich mit dem Schlamm der Strasse zu beschmutzen“ (AL 308). Es braucht eine Pastoral der Nähe, bei der wir „dem Gewissen der Gläubigen Raum geben“ (AL 37). Der Papst nennt dies eine Pastoral „Schulter an Schulter“ (wörtlich: Körper an Körper) (Brief des Papstes an die Bischöfe der Region von Buenos Aires, 5.9.2016).

Die hohe theologische Tradition, die der Heilige Vater bei dieser Gelegenheit zur Unterstützung seiner Überlegungen in Erinnerung ruft, geht in die gleiche Richtung. Der hl. Thomas von Aquin bestätigt in seiner Lehre, dass allgemeine Normen zwar „ein Gut darstellen“, in ihren Ausformulierungen aber „unmöglich alle Sondersituationen umfassen“ (AL 304; vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica IIa-IIae, q. 94, art. 4). „Es kommt also umso häufiger zu Fehlern, je mehr man in die spezifischen Einzelheiten absteigt“ (AL 304).

Das wirkliche Leben der Person ist dabei wichtiger als die Idee, gemäss dem Prinzip, das in Evangelii Gaudium (EG 231-233) angeführt wird. Der Wille Gottes ist immer konkret, in jeder Situation. Er reduziert sich nie auf eine simple Übereinstimmung mit den moralischen Gesetzen (AL 304-305), sondern verlangt eine spirituelle Begleitung, die akzeptiert, „mit dem konkreten Leben der anderen ernsthaft in Berührung zu kommen und die Kraft der Zartheit kennen (zu) lernen“ (AL 308, vgl. EG 270).

Das Gesetz der Gradualität

Deswegen sprechen wir von einem Gesetz der Gradualität (AL 293-295), das jede pastorale Bemühung bestimmen muss, und das erlaubt, unter allen Umständen das mögliche Gute zu suchen (EG 44). Die Lehre der Kirche dient auf diesem Weg als Wegweiser, um sich nicht zu verlieren; das Evangelium ist der Gipfel, zu dem wir aufsteigen, die Kraft, die uns anschiebt, die Freude des Heiligen Geistes in unserem innersten Wesen; pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die Bergführer, die unterstützen und ermutigen, und das Sakrament der Ehe ist nicht eine Art Belohnung, sondern kostbares Mittel und Zeichen der Liebe Gottes, die wir immer nur auf unvollkommene Weise verwirklichen: „Man sollte nicht zwei begrenzten Menschen die gewaltige Last aufladen, in vollkommener Weise die Vereinigung nachzubilden, die zwischen Christus und seiner Kirche besteht, denn die Ehe als Zeichen beinhaltet einen «dynamischen Prozess von Stufe zu Stufe entsprechend der fortschreitenden Hereinnahme der Gaben Gottes»“ (AL 122).

Die Hl. Schrift als Wegbegleiterin

Auf diesem Weg, erweist sich das Wort Gottes nicht als eine Anhäufung abstrakter Thesen, sondern als „Wegbegleiter“, und zwar auch für die Familien, die sich in einer Krise befinden oder leiden: Allen zeigt das Wort Gottes das Ziel des Weges (AL 22).

Daraus ergeben sich bestimmte Haltungen und pastorale Kompetenzen, die erworben und entwickelt werden müssen.

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4.         Lernen, (genau) hinzuschauen

Eine Pastoral des liebenden Blickes

Durch das Lesen der Hl. Schrift lernen wir, uns die Sichtweise Jesu anzueignen. Denn alle Glaubensgeheimnisse hängen mit der Nachahmung Jesu zusammen. Daraus ergeben sich sowohl die Lehre wie die seelsorgliche Praxis.

Wir müssen also, um Papst Franziskus zu folgen, lernen, in die Tiefe zu blicken, um uns auf den Wegen des Lebens gegenseitig zu bestärken und zu unterstützen. Es geht darum, die eigene Erfahrung nicht nur oberflächlich, im Halbdunkel eigener und gesellschaftlicher Gewohnheiten zu erfassen, sondern in der Tiefe des Gewissens und im Dialog und Austausch mit der gesamten Kultur des Umfeldes, auch unter Zuhilfenahme der Ergebnisse der Humanwissenschaften wie der Psychologie, Soziologie, Pädagogik u.a.m. Auf diese Weise lernen wir jene missionarische Wende in der Kirche zu vollziehen, zu der uns der Bischof von Rom auffordert.

Das gilt ebenso für jeden Blick des Einzelnen auf seine Nächsten (Kap. 4 u. 5) wie auch für den Blick der pastoralen Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters bzw. des Pädagogen (Kap. 6 u. 7): „Es ist eine tiefe geistliche Erfahrung, jeden geliebten Menschen mit den Augen Gottes zu betrachten und in ihm Christus zu erkennen“ (AL 323).

In allen Phasen

Es ist dieser kontemplative Blick, den Franziskus anhand des Hohenliedes der Liebe des hl. Paulus (1 Kor 13), in dem Einzelaspekte der Liebe wie Perlen zu einer Rosenkranzschnur zusammengefügt werden (AL 90-119), im Detail beschreibt. Die Jugendkatechese und die gesamte Familienpastoral sind aufgerufen, auf den Etappen ihrer inneren Reifung den Blick für die Liebe und die Freundschaft  zu schärfen, z.B. bei der Ehevorbereitung, bei der die Liebe durch das Sakrament der Ehe erleuchtet werden soll: „Es ist die Liebe, welche – geheiligt, bereichert und erleuchtet durch die Gnade des Ehesakramentes – die Eheleute vereint. Es ist eine «affektive» (Thomas von Aquin, Summa theologica IIa-IIae, q. 27 art. 2), geistige und oblative, «schenkende» Vereinigung, die aber auch die Zärtlichkeit der Freundschaft und die erotische Leidenschaft umfasst, obschon sie fähig ist weiterzubestehen, auch wenn die Gefühle und die Leidenschaft schwächer werden“ (AL 120).

Das gilt auch für den weiteren familiären Rahmen durch die alltäglichen Schwierigkeiten hindurch, um durch Brüderlichkeit und Solidarität eine Welt aufzubauen, in der sich niemand allein fühlt (AL 187-194.321). „Vielleicht sind wir uns dessen nicht immer bewusst, aber gerade die Familie bringt die Brüderlichkeit in die Welt hinein! Angefangen bei dieser ersten Erfahrung der Brüderlichkeit, genährt von der Zuneigung und der Erziehung in der Familie, strahlt der Stil der Brüderlichkeit als Verheissung auf die ganze Gesellschaft […] aus“ (AL 194). Das gilt umso mehr, als wir immer älter werden und die Umwandlung der erotischen Liebe in Zärtlichkeit und Treue eine immer grössere Notwendigkeit und Herausforderung wird: „Die Verlängerung des Lebens lässt ein Phänomen entstehen, das in vergangenen Zeiten eher ungewöhnlich war: Die vertraute Beziehung und die gegenseitige Zugehörigkeit müssen über vier, fünf oder sechs Jahrzehnte hin bewahrt werden, und das wird zu einer Notwendigkeit, einander immer wieder neu zu erwählen“ (AL 163-164).

Ein differenzierter Blick

So sind wir eingeladen, einen  „differenzierten Blick“ auf die Wirklichkeit zu werfen, wie er bereits in Familiaris consortio von Johannes Paul II. skizziert wurde (FC 84 ; cf. AL 297-300). Man sollte die Leute dort abholen, wo sie sind, und die bereits gelebten positiven Elemente in Partnerschaft und Familie entdecken – auch in jenen, die das christliche Ideal nicht verkörpern. Von hier aus geht es darum, sie voranzubringen: „All diese Situationen müssen in konstruktiver Weise angegangen werden, indem versucht wird, sie in Gelegenheiten für einen Weg hin zur Fülle der Ehe und der Familie im Licht des Evangeliums zu verwandeln. Es geht darum, sie mit Geduld und Feingefühl anzunehmen und zu begleiten“ (AL 294).

Eine „fokussierende“ Pastoral

Damit weist Franziskus sowohl Rigorismus wie Laxismus zurück: eine strenge Pastoral, die behauptet, alles durch die blosse Anwendung allgemeiner Normen zu lösen (AL 304; 308), wie auch eine Pastoral der Zugeständnisse, die zur Annahme verleiten könnte, die Kirche vertrete eine Doppelmoral (vgl. AL 300; 2). Diese neue Zugangsweise ist in der Tat eine Herausforderung. Sie verlangt von uns, mit einer grossen Offenheit des Herzens unseren inneren Blick wie das Objektiv einer Kamera zu fokussieren, kurz, mit der beständigen Notwendigkeit den Weg der Liebe einzuschlagen.

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5.         Lernen, zu begleiten

Gott begleitet uns

Eine pastorale Kompetenz, die es zu entwickeln gilt, ist die Begleitung. „Auf diese Weise zeigt Jesus, wie Gottes Entgegenkommen den Weg der Menschen immer begleitet, die verhärteten Herzen mit seiner Gnade heilt und verwandelt und sie über den Weg des Kreuzes auf ihren Ursprung hin ausrichtet.“ (AL 62) Die Kirche „weiss sehr wohl, dass Jesus sich selbst als Hirten von hundert Schafen darstellt und nicht von neunundneunzig. Er will sie alle. Aufgrund dieses Bewusstseins wird es möglich sein, dass alle, Glaubende und Fernstehende, […] das Salböl der Barmherzigkeit erfahren [können], als Zeichen des Reiches Gottes, das schon unter uns gegenwärtig ist“ (AL 309).

Eine Begleitung durch und für alle

Wie die Eheleute nach der lateinischen Tradition die Spender des Sakramentes (AL 75) sind, sind sie gleichzeitig auch die „wirklichen sakramentalen Diener der Erziehung“ (AL 85), „denn wenn sie ihre Kinder heranbilden, bauen sie die Kirche auf, und damit nehmen sie eine Berufung Gottes an.“ (AL 85) Durch das Sakrament der Ehe werden sie selbst zu den hauptverantwortlichen Akteuren der Familienpastoral (vgl. AL 200). Man muss also auf die eigenen, genuinen Familienkompetenzen setzen und die Eltern befähigen, Gerechtigkeit, Frieden, Wahrheit, Liebe und Glaube in ihren Kindern wachzurufen (vgl. Kap. 7).

Dazu kommt, dass die ganze christliche Gemeinde für diese seelsorgliche Begleitung mitverantwortlich ist (AL 202; 206; 207). Denn die gegenseitige Hilfestellung in den Gemeinden geschieht durch junge, ausstrahlende Ehepaare und Familien. Unsere Pastoralpläne und -projekte müssen also die Ehe- und Familienpastoral zu einem genuinen und prioritären Anliegen machen (AL 200) und ihr jene Mittel zur Verfügung stellen, die sie ausbauen und stärken. Sie ist eine Angelegenheit und Aufgabe für alle und nicht nur für einige Spezialisten. In jedem Pastoralteam sollte jemand damit besonders beauftragt sein.

Eine fortschreitende Begleitung

Wie schon im Zusammenhang der Pastoral des liebenden Blickes ausgeführt wurde, sollte die Begleitung von Ehepaaren und Familien sich in Etappen und entsprechend den spirituellen Herausforderungen vollziehen, die mit jeder einzelnen von ihnen verbunden sind. Dabei entfaltet sie sich als eine wirkliche Pastoral des Weges:

–        Die Verlobungszeit muss in ihrer Bedeutung neu entdeckt werden.

–        Die Vorbereitung auf die Ehe muss dem Erwerb evangeliumskonformer Tugenden und der Vertiefung ehelicher Spiritualität (AL 205-216) dienen, eine Art „Ehekatechumenat“, das in die gesamte christliche Initiation integriert wird (in Verbindung mit Taufe, Firmung, Eucharistie und Beichte). Die Bistümer sollen sich darum bemühen, gemeinsame Minimalstandards zu definieren, welche die persönlichen Gespräche mit dem Zelebranten kombiniert mit Begegnungen der Paare untereinander.

–        Die Begleitung der ersten Ehejahre muss durch flexible Formen weiterführender Hilfestellungen ausgebaut werden, um Paare dabei zu unterstützen, wie man den Alltag besser bestreitet (best practices), eine starke Bindung in der Partnerschaft erlebt und mit anderen Paaren in Kontakt tritt (AL 217-230). Denn das Sakrament der Ehe ist nicht die Endstation, sondern der Ausgangspunkt eines Glaubensprozesses. „Eine der Ursachen, die zu Brüchen in der Ehe führen, besteht in den übertrieben hohen Erwartungen an das Eheleben. Wenn man die Wirklichkeit entdeckt, die begrenzter und herausfordernder ist als das, was man sich erträumt hatte, liegt die Lösung nicht darin, schnell und unverantwortlich an eine Trennung zu denken, sondern darin, die Ehe als einen Weg der Reifung anzunehmen, wo jeder der Ehepartner ein Werkzeug Gottes ist, um den anderen wachsen zu lassen“ (AL 221).

–        Unvermeidliche Prüfungen (AL 231-238), auch aufgrund bereits vorhandener Verwundungen (AL 239-240), müssen aufgefangen werden; Kinder sollen nicht Opfer der Konflikte werden (AL 245-246); und schliesslich muss auch Trauerarbeit geleistet werden, wo der geliebte Partner oder ein gemeinsames Kind stirbt (Der Stachel des Todes. AL 253-258).

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6.         Lernen, zu erkennen

Bis zuletzt begleiten, in welcher Situation auch immer

Eine solche Begleitung erfordert beständiges Fingerspitzengefühl und Achtsamkeit, um in den unterschiedlichsten Situationen Unterstützung leisten zu können. Sie muss durch Krisen hindurchführen und nicht zuletzt in ihnen eine entscheidende Chance des Neubeginns sehen: „Jede Krise birgt eine gute Nachricht, die zu hören man lernen muss, indem man das Ohr des Herzens verfeinert“ (AL 232).

Eine Kultur der Unterscheidung

Das geht nur mit einer neuen Kultur der ignatianischen Unterscheidung innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft, insbesondere in unserem Kontext der vielen und komplexen Beziehungssituationen (AL 247-252; 296-300).

Auch wenn die allgemeine Norm für alle eine verbindliche Referenz bleibt, muss sie in Bezug auf das Evangelium überprüft und angepasst werden, indem sie die Einzigartigkeit und Problematik jeder Situation angemessen berücksichtigt (AL 304-305). In der Tat gibt es mildernde Umstände, die in bestimmten Fällen Verantwortung und Schuld vermindern oder gar aufheben:  „Die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie können durch Unkenntnis, Unachtsamkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermässige Affekte sowie weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein“ (AL 302; KKK 1735).

Das Gewissen erleuchten

Die Anerkennung der Komplexität und Bedingtheit existenzieller Situationen, in denen Menschen sich befinden, muss die Pastoral auch dazu bewegen, das moralische Gewissen der Menschen zu schärfen und seine Bedeutung in diesem Prozess der Unterscheidung noch mehr zu beachten (AL 37; 222; 303). Die Rolle der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besteht darin, das Gewissen der Menschen zu erleuchten bzw. zu bilden und sie auf diesen inneren Kompass zu verweisen (AL 298-300): „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem Innersten zu hören ist“ (GS 16).

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7.         Lernen, zu integrieren

Kirche für alle

Entsprechend der Lehre von Papst Franziskus bemühen wir uns um eine Kultur der Integration und des Mitgefühls (AL 296). Hierzu zählen auch die Paare und Familien, die sich in objektiven Situationen des Bruches und der Nichtübereinstimmung mit der kirchlichen Norm befinden. „Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt“ (AL 305). In einigen Fällen könnte dies auch die Hilfe der Sakramente einschliessen (AL Fussnoten 336 u. 351).

Eine Logik der Integration

Wir laden also ein, jederzeit die Logik der Integration jener des Ausschlusses vorzuziehen: „Zwei Arten von Logik […] durchziehen die gesamte Geschichte der Kirche: ausgrenzen und wiedereingliedern[…] Der Weg der Kirche ist vom Jerusalemer Konzil an immer der Weg Jesu: der Weg der Barmherzigkeit und der Eingliederung […] Der Weg der Kirche ist der, niemanden auf ewig zu verurteilen, die Barmherzigkeit Gottes über alle Menschen auszugiessen, die sie mit ehrlichem Herzen erbitten […] Denn die wirkliche Liebe ist immer unverdient, bedingungslos und gegenleistungsfrei“ (AL 296).

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8.         Einige pastorale Auswirkungen

Vorschläge, die bereits gemacht wurden

Wir haben bereits mehrere Vorschläge angeführt: Verlangen nach dem Evangelium der Liebe, Ehe und Familie wecken; so vielen Interessierten wie möglich einen Leitfaden für das Studium von Amoris Laetitia anbieten; sich eine achtsame Seelsorgepraxis aneignen, die eine Willkommenskultur der Integration, der ständigen Begleitung, Unterscheidung und Gewissensbildung begünstigt, wie auch immer die konkrete Situation gerade aussieht.

Wir unterstützen die bereits bestehenden Angebote im Bereich der Ehevorbereitung und Familienpastoral wie auch der Erwachsenenkatechese und verstehen sie als Hilfe für Eltern, um ihre Ehe und Erziehungsarbeit besser zu verwirklichen und die Förderung von Austauschgruppen für Eheleute zu stärken.

Weiterbildungsangebote zum bewussteren Zuhören und besseren Begleiten

Des Weiteren möchten wir als integrative und vielfältige Kirche die Grundausbildung und ständige Weiterbildung der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sinne einer durch Amoris Laetitia angestossenen, differenzierten Pastoral ausbauen. Dies kann auf regionaler und diözesaner Ebene geschehen. Dazu gehört auch eine vertiefte Kenntnis der Kunst der Unterscheidung und einer diesbezüglichen, immer wieder neuen Standortbestimmung (Supervision).

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Das verlangt auch eine Zusammenarbeit mit Nichttheologinnen und -theologen, die in unserem Kontext professionelle Hilfe anbieten (Psychologen, Therapeutinnen, Juristen), um die konkreten Probleme der Familien in ihrer unbegrenzten Vielfalt besser angehen zu können.

Ständige Erreichbarkeit

Die Familienpastoral soll durch besonders beauftragte Personen und Kompetenzzentren unterstützt werden, um eine wirkliche Pastoral der Nähe zu ermöglichen, deren Rat ständig zur Verfügung steht und die permanent Beistand und Hilfe bietet, wie es der Papst genannt hat: „Schulter an Schulter“ (vgl. oben).

Gruppenbegleitung

Eine so konzipierte Pastoral der Nähe kann zur Bildung von individuellen Gruppen (Verheiratete, Alleinstehende, Geschiedene, zivil Wiederverheiratete, Homosexuelle etc.) führen, welche miteinander das Wort Gottes teilen, einander helfen und begleiten, nicht zuletzt jene, die nach einer Trennung oder einer Scheidung alleine in der Treue zur Unauflöslichkeit ihrer Ehe leben müssen.

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9.         Ziel: Ein Weg des inneren Wachstums für alle

Amoris Laetitia ist nichts anderes als eine Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Sensibilität für unsere historische Lage im Bereich der Familienpastoral. Dafür stehen Ausdrücke wie Zeit, Weg, Wachstum, Reifung, Prozess. Der Aufbau einer stabilen Liebesbeziehung setzt eine Dynamik voraus, die mit Feingefühl und Beharrlichkeit begleitet werden muss. Sie gilt vor dem Hintergrund unserer grundlegenden Ebenbürtigkeit aufgrund der Taufe für jede und jeden Einzelnen von uns. „Denn, wie wir mehrere Male in diesem Schreiben in Erinnerung gerufen haben, ist keine Familie eine himmlische Wirklichkeit und ein für alle Mal gestaltet, sondern sie verlangt eine fortschreitende Reifung ihrer Liebesfähigkeit. Es besteht ein ständiger Aufruf, der aus der vollkommenen Communio der Dreifaltigkeit, aus der kostbaren Vereinigung zwischen Christus und seiner Kirche, aus jener so schönen Gemeinschaft der Familie von Nazareth und aus der makellosen Geschwisterlichkeit unter den Heiligen des Himmels hervorgeht“ (AL 325).

Daher lässt uns der Aufruf des Papstes, der das Dokument abschliesst, nie an der Wirkkraft der Gnade zweifeln: „Alle sind wir aufgerufen, das Streben nach etwas, das über uns selbst und unsere Grenzen hinausgeht, lebendig zu erhalten, und jede Familie muss in diesem ständigen Anreiz leben. Gehen wir voran als Familien, bleiben wir unterwegs! Was uns verheissen ist, ist immer noch mehr. Verzweifeln wir nicht an unseren Begrenztheiten, doch verzichten wir ebenso wenig darauf, nach der Fülle der Liebe und der Communio zu streben, die uns verheißen ist“ (AL 325).

Es geht in unseren pastoralen Bemühungen schliesslich darum, mit Geduld die Etappen des jeweils möglichen geistlichen Wachstums zu begleiten, um den Weg offen zu halten „für die Barmherzigkeit des Herrn, die uns anregt, das mögliche Gute zu tun“ (AL 308; EG 44).

St. Niklausen (OW), den 5. September 2017

Die Bischöfe und Territorialäbte der Schweiz

Botschaft Amoris Laetitia 2017