"Querida Amazonia" - Nachsynodales Apostolisches Schreiben von Papst Franziskus

An das Volk Gottes und an alle Menschen guten Willens

1. Das geliebte Amazonien steht vor der Welt mit all seiner Pracht, seiner Tragik und seinem Geheimnis.

Nachsynodales Apostolisches Schreiben Querida Amazonia von Papst Franziskus

Kommentar zu «Querida Amazonia»

Typisch Franziskus: Er verfasst das nachsynodale apostolische Schreiben in einer erfrischenden, flüssigen Sprache, die man gerne liest und gut versteht. Typisch Franziskus: Er erlässt keine neuen Vorschriften und zwingt den Menschen in Amazonien kein bestimmtes Handeln auf. Vielmehr anerkennt er, dass sie über ihre Probleme und Herausforderungen vor Ort besser Bescheid wissen als er und daher auch besser wissen, wie es unter der Perspektive einer ganzheitlichen Umkehr konkret zu handeln gilt. Typisch Franziskus: Er verbindet die ökologische mit der sozialen und kulturellen Frage und ermuntert die Kirche zu lokalen Handlungsoptionen, denn «alles, was die Kirche anzubieten hat, muss an jedem Ort der Welt auf eigene Art Fleisch und Blut annehmen» (Nr. 6).

«Querida Amazonia», «Geliebtes Amazonien»: Was für ein Titel! Das Dokument ist gleichsam eine Liebeserklärung an die Lunge der Erde mit ihrer Vielfalt an natürlicher Schönheit und kulturellem Reichtum. Und deshalb ist es gleichzeitig ein Ausdruck der Sorge um die Zerstörung, die dort im Gang ist, um die soziale und ökologische Katastrophen, die sich anbahnen und die ganze Welt betreffen. Deshalb richtet sich der Text nicht nur an das Volk Gottes, sondern an alle Menschen guten Willens. Amazonien betrifft uns alle!

Umkehr und «buen vivir», «gutes Leben»: Das sind die beiden Leitworte des Schlussdokuments. Der Papst bestätigt sie in seiner apostolischen Exhortation. Er gibt ihnen aber eine neue Wendung. Er spricht von Visionen. Die vierfache Umkehr wird zu einer sozialen, kulturellen, ökologischen und kirchlichen Vision. «Ich träume von einem Amazonien», schreibt der Papst in Nr. 7, «das für die Rechte der Ärmsten […] kämpft», «das seinen charakteristischen kulturellen Reichtum bewahrt», «das die überwältigende Schönheit der Natur, die sein Schmuck ist, eifersüchtig hütet». Und er träumt von «christlichen Gemeinschaften, die […] der Kirche neue Gesichter mit amazonischen Zügen schenken».

Visionen eröffnen einen Blick in die Zukunft. Dieser Blick geht von der Lebenswirklichkeit hier und jetzt aus und zeichnet sich zugleich wesentlich durch eine Offenheit aus. Eine Vision hat den Anspruch, gegenwärtige Denk- und Beurteilungsmuster aufzusprengen, den Status quo neu zu denken. Visionen weisen über das Ich und dessen Grenzen im Denkvermögen hinaus. Sie stossen eine innere Dynamik an, die befähigt, den notwendigen Wandel zuversichtlich anzugehen und trotz aller Hürden die Strapazen auf sich zu nehmen, hoffnungsvoll voranzuschreiten. Visionen sind ebenso Ermunterung wie Herausforderung und können Angst machen und verunsichern, eben gerade darum, weil sie gängige Denkkategorien sprengen und Altvertrautes aufbrechen.

Die Kapitel zur sozialen, kulturellen und ökologischen Vision entwickeln den Traum von einer gerechten, sensiblen, nachhaltigen Welt, nicht nur im Amazonasgebiet. Die von der Kultur der indigenen Völker Amazoniens inspirierte Vision, dass Menschen im Einklang mit Gottes Schöpfung, in Respekt voreinander und Verantwortung füreinander wahrhaftes «buen vivir», «gutes Leben» erfahren und entfalten können, weist über Amazonien hinaus. Papst Franziskus appelliert an alle Menschen guten Willens und an die Kirche, die Klage der Armen und die Klage der Erde zu hören (Nr. 8), «den Schrei der Völker Amazoniens» zu hören (Nr. 19).

«Man muss sich empören» (Nr. 15). Gegenstand der Empörung ist die verkehrte Sicht auf Amazonien als Land ohne Leute und Kultur, dessen Reichtum und Rohstoffe man nach Gutdünken ausbeuten kann. Dabei verletzen die Ausbeuter, nicht selten auch internationale Konzerne, die Würde der dort ansässigen Menschen und Völker. Ausbeuterische Wirtschaftsbeziehungen verschmutzen die Luft, zerstören Wälder, Flüsse, Flora, Fauna, indigene Völker, Gemeinschaften und Kulturen, beschädigen die Institutionen, fördern dadurch Gewalt, Instabilität, Elend und Leid und werden so «zu einem Instrument, das tötet» (Nr. 14). Diese Arten von postmoderner Kolonialisierung sind und befördern, so die äusserst harten Worte, «Ungerechtigkeit und Verbrechen» (Nr. 14). Hier hat die Kirche ihre «prophetische Stimme» (Nr. 27) zu erheben und den Dialog auf allen Ebenen zu fördern. Das fordert auch uns, weil wir uns fragen müssen, ob die Art unseres Wirtschaftens mit dem Amazonas die Freiheit der dortigen Menschen und Gemeinschaften respektiert und fördert oder vielleicht doch eher mindert und die Lebensgrundlagen zerstört.

Tragen wir zur Zerstörung des Amazonas bei, schneiden wir uns auch ins eigene Fleisch. Denn «das Gleichgewicht des Planeten hängt auch von der Gesundheit Amazoniens ab» (Nr. 48). Das gilt nicht nur für die Natur, sondern auch für die soziale Frage. Beides gehört aufs engste zusammen (Nr. 8). Deshalb gilt es, dass wir einen Lebensstil einüben, «der weniger unersättlich ist, ruhiger, respektvoller, weniger ängstlich besorgt und brüderlicher» (Nr. 58). Entscheidend ist dabei das Entwickeln einer neuen Haltung.

Für die Kirche ist der Glaube an Jesus Christus sowie das Weiterschenken seiner Liebe das tragende Fundament für jedes soziale und ökologische Engagement (Nr. 63f.). Die Liebe Jesu Christi ergiesst sich über alle Menschen, in allen Kulturen. Die Kirche hat sich seit ihren Anfängen immer wieder inkulturiert, bis heute. Das Christentum «verfügt nicht über ein einziges kulturelles Modell» (Nr. 69). Papst Franziskus ermutigt damit nicht nur die Menschen in Amazonien, sondern uns alle, Kirche dynamisch und offen zu denken.

Der Papst denkt dabei anders als wir es uns gewohnt sind. Er denkt nicht von den Ämtern her. Sein Ausgangspunkt ist vielmehr das Volk Gottes. Von daher entwickelt er die Vision einer inkulturierten Kirche, die «das Soziale besser mit dem Geistlichen verbinden» kann (Nr. 76). Dazu bedarf es auch inkulturierter Ämter und Dienste. Zu diesen gehören aufgrund des Mangels an Priestern, wie bei uns, «Laien-Gemeindeleiter» (Nr. 94). Überhaupt will der Papst der Kirche ein Gesicht geben, das nicht klerikal geprägt ist, sondern «von Laien geprägt ist»: «Die Inkulturation muss sich auch auf konkret erfahrbare Weise in den kirchlichen Organisationsformen und in den kirchlichen Ämtern entwickeln und widerspiegeln. Wenn Spiritualität inkulturiert wird, wenn Heiligkeit inkulturiert wird, wenn das Evangelium selbst inkulturiert wird, können wir nicht umhin, auch hinsichtlich der Art und Weise, wie kirchliche Dienste strukturiert und gelebt werden, an Inkulturation zu denken» (Nr. 85).

Die Weihe von verheirateten Männern zu Priestern und die Weihe von Diakoninnen greift Franziskus nicht auf. Das hat manche, vorab in unseren Breitengraden, enttäuscht, umso mehr, als diese auch für uns wichtigen Fragen das Schlussdokument der Synode offen diskutiert und thematisiert hat. Ich kenne den Grund für das Schweigen des Papstes nicht, kann mir aber vorstellen, dass er das Wesen der Weihe von der Machtfrage entkoppeln will. Das ist für mich positiv, fordert aber eine tiefergehende Reflexion vorab über den Priester. Dazu bleibt die Tür offen, denn die Tür, welche das Schlussdokument der Synode aufgetan hat, schliesst der Papst nicht. Dagegen ist das sehr traditionelle Frauenbild, welches transportiert wird, befremdend. Zumindest für unseren Kulturkreis ist es nicht «inkulturiert». Deshalb besteht hier Handlungsbedarf. Die Kirche in der Schweiz braucht ein inkulturiertes Bild von Frauen (und Männern). Das ist ein Gebot der Erkenntnis der Zeichen der Zeit.

Bei der Ämterfrage bereitet der Papst zwar den Boden für weitere mutige Schritte. Er ruft zu mehr Mut und lokaler Mitgestaltung auf, bleibt aber in der Klärung hinter dem frischen Geist, hinter seinem eigenen visionären Anspruch zurück. Er lobt den ausgerollten Teppich des Schlussdokuments, läuft aber selber nicht darüber. Die Spannung bleibt, die Tür für Neues auch hier steht weiterhin offen. Denn der Papst redet von einer Vision, einem Traum: Traum und Vision sind nicht das Ende, sondern der Anfang eines Prozesses, dessen Resultate nicht zum vornherein feststehen.

Stellen wir uns dieser Spannung! Sie betrifft unseren nachhaltigen Lebensstil, unser Wirtschaften, unser Kirchesein.

+Felix Gmür
Präsident der Schweizer Bischofskonferenz

Freiburg, 14. Februar 2020

Kommentar zu „Querida Amazonia“ – + Felix Gmür