Stellungnahme des Schweizerischen Rates der Religionen zur Verhüllungsverbotsinitiative

1. Religionsfreiheit in der liberalen rechtsstaatlichen Demokratie

Die Freiheit der Person ist ein zentrales Gut unserer liberalen rechtsstaatlichen Demokratie und wird durch die Bundesverfassung geschützt. Die Menschen in der Schweiz sind frei in der Wahl und Gestaltung ihrer Lebensformen, Lebensweisen und Lebensorientierungen, sei es für sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen. Die liberale Gesellschaft ist aus sich heraus offen für vielfältige individuelle und gemeinschaftliche Lebensentwürfe. Die Rahmenbe­dingungen für den Schutz und die Grenzen der Freiheiten geben sich die Bürgerinnen und Bürger mit der Rechtsordnung selbst. Der Staat sorgt dafür, dass die individuellen und ge­meinschaftlichen Freiheiten in der gesamten Rechtsordnung zur Geltung kommen und neben­einander bestehen können.

Die zentrale Bedeutung der Religionsfreiheit zeigt sich darin, dass sie als Grund- beziehungs­weise Menschenrecht geschützt ist (Art. 15 BV; Art. 9 EMRK; Art. 18 UNO-Pakt II). Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts fallen darunter auch religiöse Bräuche und Gebote, sowie andere Äusserungen des religiösen und alltäglichen Lebens, soweit darin religiöse Überzeu­gungen zum Ausdruck kommen. Insofern gehören auch Kleidervorschriften einschliesslich der Verhüllung von Kopf und Gesicht zu den geschützten religiösen Praktiken. Im öffentli­chen Interesse oder zum Schutz von Freiheiten anderer darf die Religionsfreiheit allerdings eingeschränkt werden. Das hat jedoch mit Augenmass im Sinne eines Ausgleichs der mit­einander konkurrierenden Interessen zu geschehen (Art. 36 BV). Grundrechte dürfen nicht gegen Grundrechte ausgespielt werden.

Der SCR bekräftigt die Geltung der Freiheitsrechte für jede Person an sich und in Ge­meinschaft mit anderen, die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter und das Verbot jeg­licher Form von Diskriminierung. Insofern die Verhüllung Ausdruck einer religiösen Über­zeugung ist, stellt das Verhüllungsverbot aus Sicht des SCR eine unverhältnismässige Ein­schränkung der Religionsfreiheit dar.

2. Gesichtsverhüllung aus religiöser Sicht

Die Verhüllung des Körpers aus religiöser Überzeugung ist Ausdruck der menschlichen Ehr­frucht vor der Heiligkeit der Gottheit und der Scham ihr und den Menschen gegenüber. Sie stellt ein äusserliches Symbol der Gottesverehrung dar. Persönliche und gemeinschaftliche Glaubensüberzeugungen und Frömmigkeitspraktiken verdienen Respekt, weil sie untrennbar zur personalen Identität der Gläubigen gehören und deshalb unter den Schutz der hochran­gigen Persönlichkeitsrechte fallen. Sie entziehen sich einer religiösen Bewertung und Über­prüfbarkeit von aussen.

Verhüllungsvorschriften sind traditionell und kulturell verschieden und werden innerhalb und ausserhalb der Religionsgemeinschaften unterschiedlich gedeutet und gelebt. Zwar gibt es sie für beide Geschlechter, aber für Frauen gelten allgemein weitergehende Regeln. Unbestreitbar kommen darin traditionelle Geschlechtervorstellungen zum Ausdruck, die in der westlichen Welt zunehmend auf Widerstand stossen. Der SCR anerkennt das Recht auf Selbstbestim­mung jeder einzelnen Person und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Er weist jede Form von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zurück. Die Kopfbedeckung/ Gesichts­verhüllung von Frauen kann Ausdruck einer geschlechtsbezogenen Herabsetzung sein. Aber diese Deutung ist weder zwingend, noch lässt sie sich verallgemeinern beziehungsweise wird der Vielfalt der religiösen Selbstdeutungen von Frauen gerecht.

Der SCR setzt sich für eine differenzierte Sichtweise und das Gespräch mit den Mitgliedern der Religionsgemeinschaften ein. Er weist hier alle politisch motivierten Versuche zurück, in die Freiheit, Glaubensinhalte, Deutungen und Ausdrucksformen einer Religionsgemeinschaft einzugreifen. Die Religionsfreiheit ermöglicht und fördert in unserer offenen Gesellschaft die religiöse und kulturelle Pluralität und schützt die Religionsgemeinschaften und deren Mitglieder vor Druck von innen und aussen. Auf dieser Grundlage weist der SCR auch jeden ideologisch und gesellschaftspolitisch motivierten Verhüllungszwang zurück.

3. Für den indirekten Gegenvorschlag und gegen die Initiative

Die Initiative richtet sich zwar dem Wortlaut nach gegen jede Form der Gesichtsverhüllung, nimmt aber eigentlich muslimische Frauen ins Visier und trifft diese in ihrer tatsächlichen Auswirkung besonders. Die Voraussetzungen für die Einschränkung des Grundrechts sind nicht gegeben, wie der Bundesrat und zivilgesellschaftliche Menschenrechtsorganisationen übereinstimmend festhalten. Im Einzelnen gibt der SCR zu bedenken:

1. Es ist unverhältnismässig, für die sehr wenigen, in der Schweiz lebenden, vollständig ver­hüllten Frauen eine Verfassungsänderung anzustreben.

2. Anlässe für einen solchen rechtlichen Schritt gibt es nicht. Die Beweggründe für religiöse Verhüllung dürfen nicht mit den Motiven für Vermummung zur Vereitelung von Strafver­folgung gleichgesetzt werden. Gleichzeitig gilt, dass die angeordnete Enthüllung keine Ga­rantie für Gewaltlosigkeit bietet.

3. Das Verbergen der weiblichen Identität in der Öffentlichkeit wird häufig als Ausdruck der Ungleichheit der Geschlechter betrachtet. Aber diese Wahrnehmung deckt sich nicht mit der Sicht aller betroffenen Frauen. In der wissenschaftlichen Diskussion stehen sich konkurrie­rende Deutungen gegenüber.

4. Die betroffenen Frauen können vor ein belastendes Dilemma gestellt werden. Denn sie würden einem doppelten Druck ausgesetzt: einer religiösen Forderung zur Verhüllung und dem entgegengesetzten staatlichen Zwang zur Enthüllung. Die religiöse Forderung zur Ver­hüllung folgt sowohl aus dem Gehorsam gegenüber den Normen ihres religiös-sozialen Umfelds als auch aus der Selbstbindung der Frau an ihr religiöses Gewissen.

5. Der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrates schreibt die Enthüllung nur für Identifika­tionszwecke durch die staatlichen Behörden vor. Diese Einschränkung der Religionsfreiheit ist angemessen und verhältnismässig. Überdies schlägt der Bundesrat geeignete Massnahmen zur Stärkung der Rechte der Frauen vor. 

4. Den religiösen Frieden fördern

Die Initiative gibt vor, die öffentliche Sicherheit stärken zu wollen. Tatsächlich richtet sie sich aber gegen eine verschwindend kleine Bevölkerungsgruppe. Mit der Initiative werden keine Probleme gelöst, weder für die betroffenen Frauen noch im Umgang mit jenen Herausfor­derungen, vor die uns religiös-radikale Ideologien als Gesellschaft stellen. Ausserdem bietet das kantonale Recht hinreichende Regelungen, sodass eine Ergänzung auf nationaler Ebene unnötig ist.

Die Ideologien, die zur Gewalt aufrufen, sind eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, unabhängig davon, ob sie sich hinter einem Schleier verstecken. Deshalb plädiert der SCR für einen offenen Dialog in einer freien und pluralen Gesellschaft. Es gilt, einvernehmliche Lö­sungen zu finden, die weder Freiheiten unverhältnismässig beschneiden noch partikuläre Werte zur generellen Norm erheben. Die vielfältigen Ausdrucksformen öffentlicher Reli­gionsausübung machen diese Pluralität und Freiheit sichtbar und leisten damit einen wich­tigen Beitrag für das Selbstverständnis einer lebendigen freiheitlichen Gesellschaft.

SCR, 19. 1. 2021