Wo ist der Sinn?

Kommission für Theologie und Ökumene der Bischofskonferenz zum Coronavirus

Menschen suchen oft geradezu unvermeidlich nach einem Sinn in dem, was sie erleben.

Dabei gehört es zu den grossen Fragen der Menschheit, ob in allem Geschehen ein Sinn liegt. Ich erinnere mich an manche Diskussionen, die zusammen mit der damals neuen Formulierung „es macht Sinn, dies oder jenes zu tun“ aufkamen. Die einen verwendeten diese Formulierung häufig und mit Vorliebe, andere opponierten dagegen. Ihr Einwand: Sinn ist nicht ein Machwerk von Menschen, er ist aller eigenen Anstrengung zuvor gegeben.

 
Hat oder macht die pandemische Verbreitung des Corona-Virus Sinn?
Menschen früherer Zeiten hätten darin tatsächlich einen gottgewollten Sinn gesehen: eine Mahnung zur Busse oder ein Ausdruck des Zornes Gottes. Dies ist eine Wurzel für jene Busstage, aus denen sich etwa der Eidgenössische Bettag entwickelte. Diese Deutung ist angesichts der Katastrophen dieser Welt, die meist jene treffen, die ohnehin schon an der Schattenseite des Lebens stehen, zynisch und wird inzwischen nur noch (leider aber immer noch) von wenigen vertreten.
In den zurückliegenden Wochen ist eine andere Strategie der Sinnfindung erkennbar. Der Hinweis auf die Doppelbedeutung des chinesischen Wortes für Krise, das (für mich unüberprüfbar) Gefahr und Chance zugleich bedeute, erfährt eine Renaissance. Ist die unfreiwillige Entschleunigung eine Chance? Bietet das Herunterfahren von Flugverkehr, Industrie usw. die Chance, dass es in Asien und anderswo wieder reine Luft gibt, dass Delfine in den Hafenbecken von Venedig schwimmen können, dass Klimaziele doch noch erreichbar werden? So nahe ein solcher Gedanke liegen mag, auch er hat zynische Dimensionen. Das Leid von Menschen, qualvolles Sterben, massive und bedrohliche Beanspruchung von Personen im Gesundheitswesen, wirtschaftliche Existenzängste, unsägliche Bedrohung der Menschen z.B. in den Flüchtlingslagern jenseits unserer Grenzen lassen sich nicht durch imaginierte positive Folgen aufrechnen.
Es ist besser, die Corona-Krise nicht mit einer theoretischen Sinndeutung zu ummanteln. Diese Warnung gilt nicht zuletzt für Kirche und Theologie. Auch wenn sie unter dem Auftrag stehen, Zeugnis von Trost und Hoffnung zu geben: dies sollte nicht durch eine fragwürdige Sinn-Antwort geschehen. Wir sind mit einer der (weltweit gesehen) vielen Krisensituationen konfrontiert, die durchaus nicht schon einen Sinn in sich tragen.
 
Etwas anderes ist es, Menschen zu ermutigen, in eben dieser Situation Verantwortung zu übernehmen, Sinn-Verantwortung dafür, das eigene Leben und das Zusammenleben mit anderen auch in dieser unheilvollen und unheimlichen Situation human, beziehungsgerecht und so gesehen sinnvoll zu gestalten. Dazu gehört auch das Aushalten der Ambivalenz, in der viele neu lernen müssen, das Wechselbad der Gefühle angesichts der nahen Bedrohung, der Herausforderungen des bleibenden Alltags und der kleinen Freuden auszuhalten. Es wächst eine Scham über eigenes Wohlergehen neben dem Grauen, das Menschen in der unmittelbaren Umgebung erfahren. Doch zur Sinn-Verantwortung im eigenen Leben gehört es, die Gleichzeitigkeit von Leid und Empathie mit von Leid betroffenen Menschen einerseits und dankbarer Freude über das Frühlingserwachen andererseits auszuhalten. Zur Sinn-Verantwortung der Gesellschaft gehört es, die unheilvolle Krise auch als Bewährungsprobe für Solidarität zu leben und allenfalls daraus sogar Veränderungspotenzial zu schöpfen. Das Neue Testament führt uns zahlreiche Situationen vor Augen, die als solche sinnleer (Not, Verfolgung, Hunger Kälte, Gefahr, Schwert [Röm 8,35]) sind, in denen Menschen aber auf paradoxe Weise und in gläubiger Lebenskühnheit ihre Würde bewahren und „doch noch Raum“ finden (2 Kor 4,8). In dieser Motivation können Christen und Christinnen mit allen Menschen guten Willens gemeinsam danach suchen, die Sinn-Verantwortung in den Bedrohungen wie in den Anstössen zu gesellschaftlichen Veränderungen wahrzunehmen.
 
Prof.in Dr. Eva-Maria Faber, Chur
(Mitglied der Kommission für Theologie und Ökumene der SBK