Sterbenarrative – Bedeutung für die Seelsorge in Palliative Care

Nationale, ökumenische Tagung für Verantwortliche der Kirchen im Bereich Palliative Care, Bern 9.9.2020

Sterbenarrative aus theologischer Sicht

Prof. Dr. Simon Peng-Keller, Professur für Spiritual Care, Universität Zürich

Seelsorgende sind „bearers of stories“, Hüter*innen jener Geschichten, die in seelsorglichen Begegnungen zur Sprache kommen. Gleichzeitig tragen sie ihre eigenen Geschichten mit sich. Auch diese prägen ihr Zuhören und Begleiten ebenso wie jene Geschichten, von denen klinische Welten und die öffentliche Kommunikation über Sterben und Tod geprägt sind: medizinische Erfolgsgeschichten, Geschichten des guten und weniger guten Sterbens, Erzählungen von Reisen ins Licht… Vor dem Hintergrund eines NFP 67-Forschungsprojekt zum Tagungsthema beleuchtet der Vortrag die Ambivalenz dominanter Narrative vom „guten Tod“ und fragt nach den Ansatzpunkten für die seelsorgliche Begleitung.

Weiterführende Literatur:

Simon Peng-Keller, Andreas Mauz (Hg.), Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am/vom Lebensende (Reihe: Studies in Spiritual Care, Bd. 4). Berlin: De Gruyter 2018.

Aktuelle Sterbeberichte

Prof. Dr. Corina Caduff, Vizerektorin Forschung, Berner Fachhochschule

Sterbenarrative aus literarischer Sicht handeln oft von Ungewissheit, Lebensrückschau, dem kranken Körper und Care. Autobiographische Sterbeberichte sind Zeugnisse von Menschen, welche ihrem Sterben und ihrem Tod mit Worten begegnen. Manchmal entstehen solche Texte über Monate oder gar Jahr hinweg. Literarische Sterbenarrative zeigen auch ein Ringen um spirituelle und/oder religiöse Orientierung. Gemeinsam sind den Sterbeberichten ihre Funktionen: Die Wiedergewinnung der Selbstbestimmung, das Erstellen einer Hinterlassenschaft und die Resonanz des eigenen Lebens. Sterbenarrative sind immer eine Form von Erhaltung der Kommunikation am Lebensende.

Dignity Therapy

Michale Forster, Pflegefachfrau und MAS in Palliative Care, St.Gallen

Würde – eine Worthülse? Gibt es konkrete Möglichkeiten und Erfahrungen „die Würde“ im Spital auf den klinischen Radar zu „bringen“? Erfahrungen mit Dignity in Care, der Dignity Therapy und der Dignity Question werden aufgezeigt. 

Würde ist ein zentrales Thema bei Menschen am Lebensende. Neben dem Wunsch nach Linderung von Leiden ist in Würde sterben zu können und so seinen inneren Frieden zu finden der grösste Wunsch von Sterbenden Menschen.  H.Chochinov entwickelte ein Instrument, welches diesen Wunsch nach Würde in der Behandlung von Sterbenden aufnimmt. Es handelt sich um eine Form von Biographiearbeit, in welcher den Patient*innen ein Fragekatalog vorgelegt wird, anhand dessen ein Interview erfolgt. Die Aufzeichnungen werden transkribiert und gemeinsam mit dem Patienten, der Patientin strukturiert und ihm oder ihr schliesslich vorgelesen. Das Skript verbleibt bei den Patient*innen, die es dann auch ihren Angehörigen zeigen können.

Memory Work

Helena Zweifel, Ethnologin, ehemalige Geschäftsleiterin Medicus Mundi Schweiz /aidsfocus.ch

Mit „Memory Work“ – Erinnerungsarbeit – werden verschiedene Methoden bezeichnet, mit Hilfe derer Menschen sich kreativ mit der eigenen Lebensgeschichte auseinandersetzen. Entwickelt und erprobt wurde Memory Work im südlichen Afrika im Kontext von HIV/AIDS. Im „Memory Book“ geben HIV positive und aidskranke Eltern ihren Kindern wichtige Informationen mit über ihre Herkunft, ihre Identität, ihre Wünsche und „die wichtigen Dinge im Leben“. Die Eltern schreiben und malen nicht nur für ihre Kinder, sondern gewinnen in dem Prozess der persönlichen, bejahenden Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben neuen Mut und Selbstvertrauen – weshalb heute Erinnerungsbücher auch „Lebensbücher“ genannt werden. Für die verwaisten Kinder ist das Buch ein wertvoller Schatz und Lebenshilfe. Andere Formen sind die „Memory Boxes“, in denen Erinnerungsstücke aufbewahrt werden, oder „Hero Books“, in denen Kinder ihre Geschichte neu schreiben. Die Arbeit an den Büchern und Boxes erfolgt meist in Gruppen, moderiert und begleitet von einer Fachperson, die einen sicheren Raum für Erinnerungen schafft. Unabhängig von Lebenssituation, kulturellem Hintergrund oder Alter kann Memory Work jede und jeden darin unterstützen, sich kreativ mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen und die eigenen Ressourcen zu entdecken.

Praktische Biografiearbeit

Lebensgeschichtliches Erzählen in Begleitung, Betreuung und Pflege

Shirin Sotoudeh, Dr. phil. hist. Sozialanthropologin / Dozentin, Fribourg,

Erzählen und Zuhören – diese alltägliche Interaktion im Kontext von Begleitung, Betreuung und Pflege kann bedeutende Wirkungen entfalten:  Verbundenheit und Zugehörigkeit werden im Erzählen und dank des achtsamen Zuhörens und Nachfragens erfahren; lebensgeschichtlichen Ereignissen wird im Erzählen Bedeutung gegeben und damit Sinn und Orientierung geschaffen; es wird möglich, Vergangenheit, Gegenwart und – auch im Kontext Palliative Care – Zukunft zu verbinden und so wird das Empfinden von Kohärenz und Identität gefördert. Doch welche Voraussetzungen sind auf individueller wie auch institutioneller Ebene nötig, damit sich die wohltuenden und stärkenden Wirkungen des Erzählens entfalten können? Auf der Basis von Erfahrungen aus der forschenden Praxis im Rahmen des CAS „Lebenserzählungen und Lebensgeschichten“ der Weiterbildung der Universität Fribourg soll diesen Zusammenhängen nachgegangen werden.

Palliative Care – Abstracts 2020