Tag des Judentums 2022 : Gegen Antisemitismus!

Am Zweiten Fastensonntag feiert die römisch-katholische Kirche in der Schweiz den „Tag des Judentums“. Er soll das Wissen über das Judentum vertiefen, antijüdische Vorurteile abbauen und eine „Lehre des Respekts“ fördern. In diesem Jahr erinnert uns dieser Auftrag an das 75-jährige Jubiläum der Konferenz von Seelisberg. Vom 30. Juli bis zum 5. August 1947 trafen sich in der kleinen Gemeinde im Kanton Uri bedeutende Vertreter jüdischer und christlicher Organisationen, katholische, protestantische, jüdische Männer und Frauen aus 19 Ländern, zu einer „Internationalen Konferenz der Christen und Juden“, die als „Dringlichkeitskonferenz gegen den Antisemitismus“ in die Geschichte einging und in zehn Thesen den christlichen Glauben und die Theologie durch eine vorurteilsfreie Beziehung zum Judentum erneuerte. Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Massenmord am europäischen Judentum erkannte man die erschreckende Fortdauer der Judenfeindschaft und entwarf in Seelisberg Massnahmen und Strategien zur Bekämpfung von Antijudaismus und Antisemitismus. Mit den „Seelisberger Thesen“ wurde der Grundstein zu einer positiven Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum und für die Konzilserklärung „Nostra aetate“ gelegt, mit der die Kirche 1965 eine neue, ja, eine „revolutionäre“ Epoche des jüdisch-christlichen Dialogs einleitete. Aufgrund des gemeinsamen geistlichen Erbes ruft das Konzil dazu auf, das brüderliche Gespräch und die gegenseitige Kenntnis und Achtung zu fördern. Entschieden verurteilt es alle Formen von Rassismus und Antisemitismus. Im vierten Artikel beklagt und verwirft die Konzilserklärung explizit „alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben“ und zitiert die Heilige Schrift: „Wer nicht liebt, kennt Gott nicht“ (1 Jo 4,8).
Alle Christinnen und Christen sind zur Abwehr und Bekämpfung aller Manifestationen von Antijudaismus und Antisemitismus verpflichtet.
Doch wo stehen wir heute im Jahr 2022, Jahrzehnte nach der Seelisberger Konferenz und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil? Erneut sind wir mit einem gefährlichen Antisemitismus konfrontiert.

Schon in den Jahren vor der aktuellen Corona-Pandemie war in Europa eine massive Zunahme des Antisemitismus zu verzeichnen. Judenfeindschaft manifestierte sich latent, zunehmend auch offen in den Sozialen Medien und immer mehr auch in öffentlichen Anfeindungen. Bis 2019 hatte die gewalttätige Spielart des Antisemitismus ein Ausmass erreicht wie noch nie in den Jahrzehnten nach 1945. Physische Angriffe bis hin zu Morden an Jüdinnen und Juden, Anschläge auf Museen, Schulen, Synagogen und Friedhöfe, aber auch auf israelische Institutionen wurden und werden registriert. Die Liste der Länder, in denen die Gewaltausbrüche stattfanden, ist lang. Sie reicht von Osteuropa über die USA, Grossbritannien und Frankreich bis nach Belgien und Deutschland. Auch die Schweiz war davon nicht ausgenommen.

Seit Ausbruch der Pandemie hat die Judenfeindschaft noch mehr zugenommen. Online ist der Antisemitismus regelrecht explodiert, auch in der Schweiz. Der Judenhass zeigt sich nicht nur im rechtsextremen Milieu, sondern auch in bürgerlichen, liberalen und linken Kreisen. Eine zentrale Rolle spielt bei diesem „neuen Antisemitismus” die Feindschaft gegenüber dem Staat Israel, dessen Existenzrecht bestritten wird. Vor allem in Europa ist der Antisemitismus mittlerweile so bedrohlich geworden, dass in einer vor Corona veröffentlichten Studie der EU rund 38 Prozent der Juden und Jüdinnen Europas an Auswanderung denken.

Historisch unterscheidet man zwei Formen der Judenfeindschaft. Da wäre zunächst der religiös bedingte Antijudaismus, welcher der Trennungsgeschichte von Judentum und Christentum entstammt und die Einstellungen geschaffen hat, die bis heute der Judenfeindschaft zugrunde liegen.
Der christliche Antijudaismus verankerte über viele Jahrhunderte lang antijüdische Stereotype und Denkweisen in der kollektiven Psyche der europäischen Zivilisation. Sie bestanden fort. Um die neue Judenfeindschaft zu bezeichnen, prägte der deutsche Journalist Wilhelm Marr 1878 in Berlin den Begriff des „Antisemitismus“, ein Kampfbegriff, der sich gegen die Juden und ihre seit der französischen Revolution errungene Gleichberechtigung richtete. Im neuen Zeitalter des Rassismus konnten Jüdinnen und Juden der Verfolgung nicht mehr entrinnen, wie es sich im Nationalsozialismus und im Holocaust zeigte. Auch nach der Schoah blieb der Antisemitismus präsent und manifestierte sich im Antizionismus der Sowjetunion und diversen Verfolgungswellen im damaligen Ostblock ebenso wie in der Vertreibung der Juden aus der islamischen Welt. Jeder Art von Antisemitismus gilt es entschlossen zu begegnen. Es gilt die Botschaft von Seelisberg und „Nostra aetate“: Nie wieder Antijudaismus und Antisemitismus!

Jüdisch/Römisch-katholische Gesprächskommission der Schweiz (JRGK)

Frühjahr 2022

Liturgische Institut

Célébration œcuménique du Dies Judaicus 2022