Zweiter Fastensonntag 2021 - 10 Jahre «Tag des Judentums»

Seit 2011 wird in der röm.-kath. Kirche der Schweiz der «Tag des Judentums» am zweiten Fastensonntag begangen.

Das Judentum ist nämlich «nicht etwas ‘Äusserliches’, sondern gehört in gewisser Weise zum ‘Innern’» des Christentums, betonte Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in der Synagoge von Rom 1986. Schon die Konzilserklärung Nostra aetate rief in Erinnerung, dass Jesus, seine natürliche Familie wie auch die Jünger und Apostel jüdisch waren. Nach Jesu Auferstehung breitete sich die jüdische-messianische Gemeinde rasch auch unter den Völkern aus. Die Evangelien wie die Paulusbriefe sind jüdisch-messianische Glaubenszeugnisse und setzen die Hebräische Bibel voraus. Sie werden erst als Neues Testament zusammen mit dem Alten Testament die Grundlage des Christentums. Rabbinisches Judentum und frühes Christentum entstehen in Annäherung und Abgrenzung zueinander. Mit dem Ausdruck «Das Auseinandergehen der Wege» werden diese Jahrhunderte in der Spätantike heute bezeichnet.

Juden und Christen werden zu Recht als «Geschwister im Glauben» bezeichnet. Geschwister sind oft sehr unterschiedlich. Sie können sich sogar bekämpfen. Die Rivalität zwischen Judentum und Christentum um das biblische Erbe hat tatsächlich die Jahrhunderte geprägt. Ein christlicher Antijudaismus hat viel Leiden über das jüdische Volk gebracht. Er hat dazu beigetragen, dass in der Moderne der Antisemitismus entstehen konnte, der seinen traurigen Höhepunkt in der Schoa gefunden hat, in der sechs Millionen Juden und Jüdinnen umgebracht wurden. Der «Tag des Judentums» ist ein Tag in der Fastenzeit, in der die Kirche Busse tut und umkehrt. Sie sucht Versöhnung auch mit der Schuld, die sie in Bezug auf das jüdische Volk in Wort und Tat auf sich geladen hat. Nur so kann sie guten Herzens auf Ostern zugehen und verstehen, was Jesu Abschiedsmahl, sein Leiden und seine Auferstehung wirklich bedeuten. Diese Ereignisse geschahen in den Tagen von Pessach und erhalten einen Teil ihrer Bedeutung aus diesem Fest, an dem die jüdische Tradition die Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens feiert. So suchen Christen und Christinnen heute ein vertieftes Verstehen des Judentums. Ein friedvolles, sich gegenseitig wertschätzendes und geschwisterliches Verhältnis ist allen katholischen Gläubigen aufgetragen.

Der «Tag des Judentums» will nicht nur zurückschauen und aufarbeiten. Papst Franziskus unterstreicht in Evangelii gaudium 249: «Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes.» Das «gemeinsame geistliche Erbe» (Nostra Aetate 4) ist reich und will lebendig gehalten werden. So wurde in der Schweiz bewusst ein Sontag für den «Tag des Judentums» gewählt. Der Sonntag ist die Schwester des Sabbats. Beide verpflichten je ihre Glaubensgemeinschaft, die Freiheit aus Gefangenschaft und die Überwindung der Todeskräfte zu feiern. Juden wie Christen sind zu einem Leben in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor Gott berufen. (Ex 19,5f; Lk 1,75) Die Bischofskonferenzen in Italien, Polen oder der Niederlande zum Beispiel, haben den 17. Januar als «Tag des Judentums» festgelegt. Auch das macht Sinn, denn es ist der Tag vor der «Woche für die Einheit der Christen». Das ökumenische Anliegen und die jüdisch-christliche Beziehung gehören zueinander. Wie die Kirchen nämlich den Auftrag haben, in einer zerrissenen Welt Einheit zu stiften, so will das jüdische Volk Licht für die Völker sein, wie gerade das Dokument der orthodoxen Rabbiner «Zwischen Jerusalem und Rom» aus dem Jahr 2017 unterstreicht.

Am «Tag des Judentums» soll im röm.-kath. Gottesdienst auf die jüdische Glaubenstradition Bezug genommen werden. Predigtworte zum Psalm und zur Eucharistie, die zahlreiche Ähnlichkeiten zur jüdischen Liturgie aufweist, sind wünschenswert. Das Evangelium ist an diesem Sonntag die Verklärung Jesu auf einem Berg. (Mk 9,2-10) Dieser Berg, im Evangelium nicht näher bezeichnet, spielt auf den Sinai an, wo Mose und Elija das Wort Gottes erhalten haben. Mit ihnen ist Jesus bei der Verklärung im Gespräch. Drei Juden unterhalten sich darüber, wie die Weisung Gottes auszulegen ist. Normativ, aber nicht exklusiv sollen Christen auf Jesu Stimme und seine Auslegung hören. Mit dieser Anweisung steigen Petrus, Jakobus und Johannes vom Berg herunter, ohne dass sie schon verstanden hätten, was damit genau gemeint ist. Haben wir heute verstanden? Müssten wir nicht mit Juden und Jüdinnen zusammen die Bibel auslegen und eine Lerngemeinschaft bilden?

Die päpstliche Bibelkommission zeigt in ihrem Dokument «Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel» von 2001 auf, wie Juden und Christen gemeinsam die Heilige Schrift lesen können. Der «Tag des Judentums» bietet dazu Gelegenheit, wenn die erste Lesung aus Genesis 22 genommen wird: Die sogenannte «Opferung Isaaks» wird in der jüdischen Tradition «Bindung Isaaks» genannt. Die Erzählung endet damit, dass ein Widder, nicht Isaak als Brandopfer dargebracht wurde. Oder musste Abraham seinen geliebten Sohn und mit ihm die göttliche Verheissung loslassen? Gleichsam Gott um Gottes willen lassen, also «opfern»? Während die Religionswissenschaft den Text als Übergang vom Menschopfer zum Tieropfer interpretiert und die christliche Tradition ihn oft als eine Vorschau auf den Kreuzestod Jesu verstanden hat, beschreibt die rabbinische Auslegung das Ringen Abrahams in seiner Beziehung zu Gott. Er sucht nach dem Willen Gottes horchend gehorsam und doch selbstverantwortet. Dabei kommt auch Sara, die Perspektive der Frau, in den Blick, denn ihr Tod wird gleich im Kapitel danach geschildert. Es gibt kaum einen so vielschichtigen und aktuellen Text in der Hebräischen Bibel wie Genesis 22. Er beschliesst die Abrahamserzählung im engeren Sinn.

Gen 12, wo Gott zum ersten Mal Abraham Land und Nachkommen verspricht, wie auch Gen 17, Gottes Bundesschluss mit Abraham, werden in anderen Jahren am «Tag des Judentums» gelesen. Dabei ist die Botschaft einerseits: Land und Nachkommen gehören beide zum Bund. Andererseits ist der Bund mit Abraham durch den neuen Bund im Blut Jesu nicht aufgelöst. Johannes Paul II. hat den Ausdruck des «nie gekündigten Bundes» geprägt, denn Gott ist treu. Gerade Paulus unterstreicht dies in Röm 9-11, wenn er über Israel nachdenkt. Die Kirche ist in der Heilsgeschichte nicht an die Stelle von Israel getreten. Das Volk Gottes hat heute vielmehr eine Doppelgestalt: «Juden und Christen – das eine Volk Gottes» lautet ein Buchtitel von Kardinal Walter Kasper (2020). Paulus nennt die gegenseitige Verwiesenheit von Juden und Christen ein Geheimnis und eine Weisheit Gottes. (Röm 11,30f) Der «Tag des Judentums» will helfen, diesem Geheimnis nachzuspüren und diese Weisheit zu erforschen.

Die Jüdisch/Röm.-kath. Gesprächskommission (JRGK) der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) und des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) hat schon 2012 eine Handreichung zum «Tag des Judentums» geschaffen. Zusammen mit den jährlichen Impulstexten auf https://www.bischoefe.ch zu finden. Auf der Homepage des Liturgischen Instituts der Schweiz https://www.liturgie.ch werden auch jedes Jahr Fürbitten für den Gottesdienst formuliert. Am «Tag des Judentums» sind Katholiken und Katholikinnen zudem eingeladen, durch verschiedene Veranstaltungen den Dialog und die Begegnung mit Jüdinnen und Juden zu suchen.

JRGK, Januar 2021