Botschaft der Schweizer Bischöfe zum Tag der Kranken 2022

Liebe Kranke, liebe Familien, liebe Mitglieder des Pflegepersonals

Der «Verein Tag der Kranken» hat den diesjährigen Tag der Kranken, den 6. März 2022, unter das Motto «Lebe dein Leben» gestellt. Das ist eine Ermutigung. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass in diesen Tagen manche dieses Motto als beinahe zynisch empfinden und antworten: «Ich würde ja gerne mein Leben leben, aber ich kann nicht mehr so wie ich möchte. Das gesellschaftliche Leben ist durch die Pandemie eingeschränkt, ich sorge mich um meine Gesundheit und um die Gesundheit meiner Lieben. Das macht es gerade sehr schwierig, mein Leben so zu leben wie ich es mir wünsche und gewohnt bin».

So verständlich und nachvollziehbar eine solche Reaktion ist, das Motto «Lebe dein Leben» fordert mich dennoch heraus, über das Leben an sich nachzudenken. Wenn ich mich umschaue, stelle ich fest, wie viele Menschen sich im Alltag damit abfinden müssen, dass ihre Gesundheit und ihre Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Jedes Leben ist begrenzt; jedes Leben spielt sich unter bestimmten Voraussetzungen und in gesetzten Grenzen ab.

Dabei denke ich an chronisch Kranke und Patientinnen und Patienten mit lebenslangen Beeinträchtigungen. Ich denke genauso an die Menschen, die in letzter Zeit durch Covid-19 aus dem vollen Leben herausgerissen wurden und jetzt damit umgehen müssen, dass sie noch einen langen, ungewissen Genesungsweg vor sich haben.

Als Christinnen und Christen haben wir von Gott her die Zusage, dass er jedes Leben annimmt und zu jedem Leben JA sagt. Jesus sagt uns an vielen Stellen im Evangelium: «Ich will, dass ihr das Leben habt und dass ihr es in Fülle habt». Aber die Fülle des Lebens bedeutet nicht stets gesund und grenzenlos leistungsfähig zu sein. Die Fülle des Lebens zu erfahren bedeutet, unter den gegebenen Umständen das eigene Leben zu leben, mögen sie noch so schwierig sein. Wir Menschen sind zu dieser grossen Kunst der Anpassung fähig.

Jesus tritt in all seinem öffentlichen Wirken immer wieder dafür ein, dass Schwache und Ausgegrenzte hineingenommen werden in das Leben der Gemeinschaft. Zu seiner Zeit sind Aussätzige, Witwen, Kinder die Menschen am Rande oder ausserhalb der Gesellschaft. Jesus holt sie an seinen Tisch, ebenso die öffentlich bekannten Sünderinnen und Sünder. Er heilt Blinde, Lahme, Aussätzige, um klar zu machen: Sie alle gehören zu euch. Ganz bewusst nimmt Jesus die Botschaft des Propheten Jesaja auf und stellt sich in dessen Tradition: «Der Herr hat mich berufen, den Armen gute Botschaft zu bringen und den Gefangenen zu verkünden, dass sie frei sein sollen. Ich soll den Blinden sagen, dass sie sehen werden, und den Unterdrückten, dass sie bald von jeder Gewalt befreit sein werden» (Lk 4,18). 

«Lebe dein Leben» heisst für mich als Christ also: Ich muss manchmal schwierige Einschränkungen akzeptieren. Ich kann oft nicht so wie ich möchte, aber in allem bin ich angenommen von dem Gott, der uns alle geschaffen hat, der zu uns allen JA sagt. Ich weiss, dass er nicht nur zu mir JA sagt, sondern zu jedem Menschen in dieser Welt. Auch ich bin aufgefordert zu versuchen, soweit es in meinen Kräften und Möglichkeiten liegt, Mitmenschen anzunehmen und zu respektieren.

Die Kirche darf diesen ursprünglichen Auftrag nicht vergessen. Deshalb setzen wir uns als Kirche in unserer Gesellschaft dafür ein, dass Menschen nicht in Armut leben müssen, dass Menschen aufgrund ihrer Krankheiten nicht ausgegrenzt werden. Menschen, die nicht mehr weiterwissen, sollen spüren, dass sie nicht alleine sind. Deshalb setzen wir uns für gerechte Strukturen ein, die den Armen, Schwachen und Kranken dieser Welt helfen.

«Lebe dein Leben» – Viele kranke Menschen sind angewiesen auf Hilfe und Begleitung, auf Nähe und nicht zuletzt auf die Treue, die Beziehungen wachhält. Ich danke allen aus vollem Herzen, die diese Treue täglich verwirklichen, indem sie Kranke besuchen oder ihnen auf verschiedene Weise beistehen. Ich danke denen, die Menschen entlasten, die Angehörige betreuen. Kurz gesagt: Ich danke allen, die anderen helfen, ihr Leben zu lieben und zu leben.

Möge Gottes Segen allen Einsatz für die kranken Mitmenschen begleiten.

 

Für die Schweizer Bischofskonferenz

+ Markus Büchel, Bischof von St. Gallen