Kommentar zu «Fratelli tutti» - Enzyklika von Papst Franziskus

 

 

Ein Lied unter Zitaten aller Art …
Der Heilige Vater zitiert in seiner Enzyklika überraschenderweise ein Lied des brasilianischen Liedermachers Vinicius de Morales, auf dessen Platte aus dem Jahr 1962 er in der entsprechenden Fussnote verweist (Nr. 215), den Filmemacher Wim Wenders (Nr. 203), den Theologen Karl Rahner (Nr. 88), an vielen Stellen Thomas von Aquin, anerkannte Philosophen wie Gabriel Marcel (Nr. 87) oder Paul Ricœur (Nr. 102), den umstrittenen Georg Simmel (Nr. 150), den zukünftigen Papst Karol Wojtyla (Nr. 88), der als junger Bischof das Buch «Liebe und Verantwortung» verfasste, aber auch Meister der Spiritualität wie René Voillaume (Nr. 193), und bezieht sich besonders gerne auf die Heilige Schrift, seine Vorgänger, Bischofskonferenzen aus der ganzen Welt, seine eigenen Schriften oder Interviews und insbesondere auf seinen Freund, den grossen Imam der Universität Al Azhar Ahmad Al-Tayyeb, mit dem er im Februar 2019 in Abu Dhabi das «Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt» unterzeichnete. Seine Überlegungen schliesst der Papst mit einer Erinnerung an ihren gemeinsamen Aufruf ab.
Darüber hinaus zollt der Heilige Vater Martin Luther King, Desmond Tutu, Gandhi und nicht zuletzt Bruder Charles de Foucauld, der ihn zum am Ende der Enzyklika vorgeschlagenen Gebet inspiriert hat, Tribut.
Auffallend ist, dass kaum Frauen direkt zitiert werden, obgleich ihre Sache angesprochen und die Geschwisterlichkeit gendergerecht und überall im Dokument unterstrichen wird: «So wie es inakzeptabel ist, dass eine Person weniger Rechte hat, weil sie eine Frau ist, so ist es auch nicht hinnehmbar, dass der Geburts- oder Wohnort schon von sich aus mindere Voraussetzungen für ein würdiges Leben und eine menschenwürdige Entwicklung liefert.» (Nr. 121).

Gleich einer Reise zu den christlichen Quellen und Ressourcen des interreligiösen Dokuments von Abu Dhabi
Es entsteht in der Tat der Eindruck, als ob Papst Franziskus den Aussagen des oben erwähnten Dokuments von Abu Dhabi eine christliche Grundlage oder Konsistenz vermitteln, aber auch den sozialen Aspekt seiner vorangehenden Enzyklika über ökologische Fragen, Laudato si’, noch einmal unterstreichen wolle.

Franziskus von Assisi und das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das eingehend analysiert wird, geben den Ton an und erinnern beiläufig daran, dass «wir alle etwas vom verletzten Menschen haben, etwas von den Räubern, etwas von denen, die vorbeigehen, und etwas vom barmherzigen Samariter» (Nr. 69). Nebenbei erinnert der Papst daran, dass Jesus selbst als «Samariter» verspottet worden war (nach Johannes 8,48, Nr. 83). Aber die Sorge des Papstes um ein gutes Verständnis des christlichen Beitrags zu den Problemen der Menschheit zeigt sich vor allem in den Passagen über «den unvermeidlichen Konflikt, die legitimen Kämpfe und die Vergebung, den wahren Sieg, die Erinnerung» (Nr. 237–254). Es geht um eine Vergebung, welche die Gerechtigkeit nicht aufgibt, aber frei von Hass ist. Unter Nr. 255–270 werden die beiden Möglichkeiten der «Eliminierung des Anderen» analysiert und abgelehnt. Die eine Eliminierung – der Krieg – wird von Ländern angewendet, die andere – die Todesstrafe – von Menschen angeordnet. Es sind sehr ausführliche Seiten von bemerkenswerter Tiefe. Es wird sogar wiederholt, denn der Papst zitiert sich selbst: «Die lebenslange Freiheitsstrafe ist eine versteckte Todesstrafe» (Nr. 268). Es geht um nichts weniger als die unveräusserliche Würde eines jedes Menschen. Punkt. Aber eben ein «Punkt», der im Geist der Enzyklika für den Dialog offen bleiben muss, damit er überzeugen kann! 

Eine pandemische Gewissensprüfung
Diese Enzyklika ist ein sowohl leidenschaftlicher als auch rationaler Appell an alle Menschen «guten Willens, jenseits ihrer religiösen Überzeugungen» (Nr. 56), an alle Völker, Institutionen und Regierungen, zugunsten eines echten postpandemischen Bemühens um einen radikalen Wandel hin zu einer aktiven und universellen Achtung der Geringsten, der Ärmsten, der Gefährdetsten, deren Würde keine Ausnahme dulden kann. «Wenn uns das Aussterben bestimmter Arten Sorgen bereitet, sollte uns erst recht der Gedanke beunruhigen, dass es überall Menschen und Völker gibt, die ihr Potenzial und ihre Schönheit aufgrund von Armut oder anderen strukturellen Grenzen nicht entfalten können. Denn dies führt letztendlich zur Verarmung von uns allen.» (Nr. 137).
Der Papst stellt schonungslos fest, dass wir «Analphabeten sind, wenn es darum geht, die Gebrechlichsten und Schwächsten unserer entwickelten Gesellschaften zu begleiten, zu pflegen und zu unterstützen» (Nr. 64).
Der Heilige Vater beschreibt den Rassismus als ein Virus der schlimmsten Art, «das leicht mutiert und das, anstatt zu verschwinden, weiter im Verborgenen lauert» (Nr. 97), und den radikalen Individualismus als «das am schwersten zu besiegende Virus» (Nr. 105). 

Liebe durch Dialog – die einzige Antwort auf alle Übel
Die Liebe wird als die einzige solide Grundlage für Beziehungen nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Kulturen, Religionen und Nationen dargestellt: «Wir sind für die Fülle geschaffen, die man nur in der Liebe erlangt» (Nr. 68). Alles, was lediglich eine Vereinbarung oder ein Kompromiss ist, der allen zugutekommt, bleibt fragil. Und selbst Tugenden «ohne Nächstenliebe erfüllen die Gebote streng genommen nicht so, wie Gott das beabsichtigt» (Nr. 91). Denn «die grösste Gefahr besteht vielmehr nicht in den Sachen, in den materiellen Wirklichkeiten, in den Organisationen, sondern in der Art und Weise, in der die Menschen sie benutzen» (Nr. 166). Es ist die Entdeckung des Anderen und des Unterschieds, die es ermöglicht, sich gegenseitig zu ergänzen und so menschlicher zu werden. Der Dialog ist der königliche und zertifizierte Weg, der ermöglicht, dieses Ziel zu erreichen!

Der Glaube an Gott allein reicht nicht aus
Die Gläubigen allgemein werden gehörig abgekanzelt: «An Gott zu glauben und ihn anzubeten ist keine Garantie dafür, dass man auch lebt, wie es Gott gefällt» (Nr. 74, siehe auch Nr. 86). Es werden in der Enzyklika zahlreiche Beispiele dafür – sowohl in Bezug auf das persönliche als auch auf das kollektive Verhalten – angeführt …

So wird auch auf die persönliche Verantwortung hingewiesen: «Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil» (Nr. 79)! Also: «Wenn jemand Wasser im Überfluss besitzt und trotzdem sorgsam damit umgeht, weil er an die anderen denkt, tut er das, weil er ein moralisches Niveau erreicht hat, das es ihm erlaubt, über sich und die Seinen hinauszublicken.» (Nr. 117).
Vor allem aber erinnert uns der Papst am Ende der Enzyklika daran, dass die Vertreibung Gottes bedeutet, den Menschen den Götzen auszuliefern (Nr. 271–284).

Brüderlichkeit aus Menschlichkeit oder das Fundament, auf dem man bauen kann
Wenn sich der Heilige Franziskus von Assisi an seine Brüder und Schwestern im Glauben wandte, indem er «alle Brüder» sagte (der Titel der Enzyklika ist daher in allen Sprachen auf Italienisch geblieben), und wenn er sich gegenüber jeder Frau und jedem Mann wie ein Bruder verhielt, und selbstverständlich auch gegenüber einem Sultan in Ägypten, so geht das auf Jesus zurück, sagt der gleichnamige Papst, denn in Matthäus 23,8 sagt Jesus: «Ihr seid alle Brüder und Schwestern» (Nr. 95). Mit anderen Worten: Man kann nichts dagegen tun, so ist es nun einmal. Dies ist das eigentliche Fundament der sozialen Freundschaft, das Fundament dieser Menschlichkeit, die uns zutiefst gemeinsam ist. Der unausweichliche Anspruch auf gleiche Rechte für jeden Menschen «ergibt sich schon aus der Tatsache, eine unveräusserliche Menschenwürde zu besitzen» (Nr. 127), und zwar derart, dass der Papst uns dazu aufruft, sogar «auf die diskriminierende Verwendung des Begriffs Minderheiten zu verzichten» (Nr. 131) und, statt für sie, mit und für andere, insbesondere die Armen zu handeln (Nr. 169). Dass wir alle Brüder und Schwestern sind, ist sozusagen die schönste aller Unabwendbarkeiten, die von der Vorsehung gewollte Gelegenheit, das Glück des Liebens und Geliebt-Werdens zu entdecken! Es ist dieses grundlegende Gefühl der Zugehörigkeit zu ein und derselben Familie (Nr. 230), das uns den Sinn für das Gemeinwohl öffnet. Ausserdem, meint Papst Franziskus, geht ja nichts, was aus Liebe getan wird, verloren (Nr. 195)!

Fratelli tutti? Ein Aufruf, der zugleich Warnung und Gebet ist
Der Papst warnt: «Wir werden die Probleme unserer Zeit nur gemeinsam oder gar nicht bewältigen» (Nr. 137)!
Und dennoch schliesst er voller Hoffnung mit einem Gebet, das er uns sowohl in einer interreligiösen als auch in einer christlichen Version anbietet.

+ Alain de Raemy

Im Namen des Präsidiums der Schweizer Bischofskonferenz

Freiburg, 4. Oktober 2020